Relikte bewegter Zeiten: Geschichte erzählen mal anders
Glas und Beton sind zwei Baustoffe, die bereits seit Jahrhunderten existieren und unser kulturelles und soziales Leben bis heute prägen. In der Ausstellung „Glas und Beton“ können sich Besucher*innen in einer wandfüllenden Mindmap in ihre Entwicklungsgeschichte vertiefen.
Auch wenn im Mittelpunkt der Ausstellung der Umgang mit Glas und Beton in der Gegenwartskunst steht, haben wir uns im kuratorischen Team ebenso mit der Geschichte der beiden Baustoffe auseinandergesetzt. Denn die Künstler*innen von heute knüpfen auf vielfältige Weise an vergangene Bauexperimente und Materialforschungen an. In der Recherche haben wir selbst eine Vielzahl neuer Erkenntnisse gewonnen, die wir unseren Besucher*innen nicht vorenthalten wollten. Das Konzept der Mindmap als freie Assoziationskette erschien uns als geeignetes Mittel, das komplexe Thema zugänglich zu machen – denn die Entwicklungsgeschichte knüpft nicht nur an verschiedenste Wissenschaften wie Chemie, Physik oder Architektur an, sondern ist auch zeitlich kaum zu greifen.
Die Materialentwicklung von Glas ist quasi so alt wie die Menschheitsgeschichte selbst und auch Beton gab es in verschiedenen Vorformen bereits vor unserer Zeitrechnung. Verschiedene Abbildungen geben Einblicke in die Architekturgeschichte, andere Felder vermitteln unterschiedliche „Rezepturen“ von Glas und Beton und wieder andere informieren über kulturgeschichtliche Phänomene. Die überwältigende Größe – die Mindmap füllt nahezu die gesamte Wand der ersten Galerie – spiegelt auch die Komplexität der Geschichte wider: Wir in der Gegenwart bilden nur einen kleinen Teil von ihr ab.
Glas – Vom Blitzeinschlag zum Bad auf Zinn
Glas kann bereits bei einem Blitzeinschlag am Strand entstehen. Wenn der mehrere tausend Grad heiße Blitz mit bis zu 500 Millionen Volt in den Sandboden einschlägt, schmelzen die Sandkörner. Durch die Abkühlung bildet sich das Gesteinsglas. Heute vermutet man, dass sich Glas auf diese Weise erstmals vor Tausenden von Jahren durch einen Meteoriteneinschlag gebildet hat. Die älteste Rezeptur zur künstlichen Herstellung von Glas stammt aus der Tontafelbibliothek des assyrischen Königs Ashurbanipal aus der Zeit um 650 v. Chr. Seitdem wurde die Zusammensetzung und Verarbeitung von Glas stetig weiterentwickelt. So gelang Angelo Barovier auf Murano bei Venedig im Jahr 1450 erstmals in Europa die Herstellung von transparentem Glas, das er „cristallo“ (griechisch für Frost) nannte. Venedig wurde damit zur Handelsmacht, weshalb die Rezeptur ein wohlgehütetes Staatsgeheimnis war, auf dessen Preisgabe die Todesstrafe stand.
Das erste Fensterglas wurde bereits im 12. Jahrhundert in Frankreich entwickelt, indem flache Glasteller mithilfe von Blei verbunden wurden. Glas wurde so zu einem in der Malerei beliebten Bildträger. In der Ausstellung verweist Daniel Buren mit seiner farbigen Glasarbeit „TONDO N°XH 7“, die wie ein schwebendes Fenster vor der Ausstellungswand hängt, verheißungsvoll auf die epischen Erzählungen der Kirchenfenster. Seitdem Flachglas automatisch hergestellt werden kann, sind Glasfassaden nicht mehr aus der Architektur wegzudenken. Transparenz und Durchsicht haben eine metaphorische Erzählkraft erhalten, die sich zum Beispiel James Foster für seine gläserne Kuppel auf dem Reichstagsgebäude in Berlin zu eigen macht. Sinnbildlich steht sie für eine Demokratie, die nichts zu verbergen hat.
Beton – Vom Kuppelbau zum Plattenbau
Auch für die Herstellung von Beton ist Sand notwendig. Die Grundrezeptur besteht aus Zement – aus Kalkstein und Ton – sowie der sogenannten Gesteinskörnung aus Sand, Kies und schließlich Wasser. Doch schon im alten Rom wurde aus einem Gemisch aus Kalk, Sand, Wasser und Vulkanasche der sogenannten „opus caementitium“ hergestellt. Steine mussten damit nicht mehr behauen sondern konnten in die gewünschte Form gegossen werden, was die Baukunst revolutionierte: Der Bau der gewaltigen Kuppel des Pantheons wäre anders kaum möglich gewesen.
Heute ist es die Verbindung von Beton und Metall, ohne die die Konstruktionsprinzipien des modernen Bauens nicht realisierbar wären. Diese Erkenntnis geht auf den findigen Gärtner Joseph Monier zurück, der in der Hochphase der barocken Landschaftsarchitektur die schweren Pflanzenkübel für die transportablen Orangenbäumchen weniger bruchanfällig machen wollte. Sein Bewehrungsstahl ist eine Blaupause unseres heutigen Stahlbetons. Zum Baustoff par excellence wurde Beton nach dem zweiten Weltkrieg, ist er nicht nur flexibel und langlebig, sondern auch preiswert und vielfach einsetzbar. Um dem Wohnungsmangel Herr zu werden, entwickelte die DDR verschiedene, standardisierte Modulsysteme. Mit einem Augenzwinkern thematisiert Jakub Geltner in der ausgestellten Arbeit „Monument“ das typisierte Baukastensystem, das dem Plattenbau als unifiziertes Lebensmodell zugrunde liegt.
Zukunftsfragen
Die Mindmap veranschaulicht nicht nur die Materialgeschichte, sondern macht auch auf wichtige Zukunftsfragen aufmerksam. Denn die stetige Weiterentwicklung von Glas und Beton, hat sie zu den wesentlichen Baustoffen unserer Gesellschaft gemacht. Kaum ein anderer Rohstoff der Erde wird heutzutage in so großen Mengen gehandelt wie Sand. Längst führt der massive Abbau zu einem Ungleichgewicht im Ökosystem, weswegen die Herstellungsprozesse der Ressourcenknappheit angepasst werden müssen. So werden beim Recycling-Beton Teile des Natursteins beziehungsweise Kieses durch aufbereiteten Bauschutt ersetzt. In der Glasproduktion werden Altglas oder Eigenscherben aus dem Produktionsbruch dem Gemenge zugegeben. Dennoch wird längst diskutiert, wie zeitgemäß die Baumaterialien Beton und Glas eigentlich heute noch sind.