5 Fragen an Jamie Windust
Mode und Make-up sind für Jamie Windust ein wichtiges Kommunikationsmittel. Sieer* identifiziert sich als nichtbinär und vermittelt damit der Außenwelt die eigene Identität. Sieer schreibt, modelt, gibt die Zeitschrift Fruitcake heraus und verleiht damit und durch öffentliche Auftritte der LGBTQIA+-Gemeinschaft eine Stimme. 2020 erschien das Buch „In Their Shoes: Navigating Non-binary Life“ (In ihren/seinen Schuhen: Ein nichtbinäres Leben führen), in dem Jamie Windust die Suche nach der eigenen Identität reflektiert und mit stereotypen Vorstellungen aufräumt.
Marcella Ranft (MR): Du trägst ein sehr künstlerisches Make-up. Wann und wie hast Du zu Deinem persönlichen Stil gefunden und wie schwer war für Dich diese „Reise zu Dir selbst“?
Jamie Windust (JW): Zu meinem persönlichen Stil habe ich während meiner letzten Teenagerjahre gefunden. Er war stark geprägt von dem Stilgefühl, das sich in den 1980er Jahren in Großbritannien mit einem neuen Selbstbewusstsein in der Gesellschaft geformt hatte. Im Grunde habe ich dort hin gefunden, indem ich einfach immer wieder Make-up aufgetragen habe, um auszutesten, was mir wirklich steht und womit ich mich wohl fühle. Es war mir schon von Anfang an klar, dass ich damit Kontroversen auslösen und gemischte Gefühle hervorrufen würde. Das Make-up, mit dem ich meinen Körper bedeckte, gab mir aber einfach das Gefühl, dass ich damit endlich tief durchatmen und frei sein konnte. Mich selbst zu finden war schwer, und zwar wegen des Schamgefühls, das man als marginalisierter Mensch oft verinnerlicht hat und das einen bestimmt. Ich empfand es so, als ob ich damit negative Aufmerksamkeit auf mich zog. Heute ist mir aber ganz klar, dass das niemals ein Problem war bzw. ist, das von mir ausgeht. Ich hatte überhaupt nicht den Eindruck, als ob ich irgendeine Wahl gehabt hätte – es war einfach überlebenswichtig für mich.
MR: Wie drückst Du Dein Identitätsgefühl aus und welche Rolle spielen dabei Mode und Make-up? Sind Mode und Make-up für Dich eine Art „Rüstung“, mit der Du Dich verwandeln kannst, oder eher ein Mittel zur Befreiung?
JW: Mode und Ästhetik entwickeln sich weiter. Als Teenager, als ich gerade erst begonnen hatte mich auf den Weg zu meiner eigenen Identität zu begeben, setzte ich Mode und Ästhetik ganz sicher als eine Art Rüstung ein. Ich nutzte sie so, dass ich mich dadurch selbstsicherer fühlen konnte. Besonders aber Schminke: Ich setzte sie ein, um mich damit zu bedecken und mich dadurch „normaler“ zu empfinden. Zu der Zeit war ich gleichzeitig auch auf der Suche nach meiner Geschlechtsidentität und so erkannte ich, dass mir Mode und Schminke viel mehr ermöglichen als mich dahinter zu verstecken. Heute verwandeln sie mich in jemanden, der ich von meiner Identität her immer noch bin, aber eine selbstbewusstere und raffiniertere Version davon. Mode und Schminke ermöglichen mir, mich so weit wie möglich als mich selbst zu empfinden und doch bin ich ohne sie noch immer genau dieselbe Person. Heute spielen sie also eher eine transformative Rolle, wobei ich sie nicht als Anhängsel empfinden muss, sondern eher als etwas, das mein Selbst unterstreicht.
Wiebke Hahn (WH): Mode bietet Dir einen großen Spielraum, um die Person zu gestalten, die Du sein möchtest. Aber ist es denn nicht so, dass wir gerade an der Kleidung unsere längst überkommenen Vorstellungen von Geschlechterstereotypen festmachen? Und zwar nicht nur bei etwas so Offensichtlichem wie dem Unterschied zwischen Frauen- und Männerkleidung, sondern wir verbinden ja sogar automatisch bestimmte Stile und Kleidungsstücke mit bestimmten Geschlechterrollen. Wie stellst Du Dir die Modeindustrie der Zukunft vor, was die Nonkonformität der Geschlechter betrifft? Und wie ist es für Dich, in dieser Industrie als nichtbinäres Model zu arbeiten?
JW: Ich sehe die Zukunft der Mode so: Sie wird sich bewusst werden, dass wir alle in den geschlechterbinären Vorstellungen gefangen sind, die uns als Gesellschaft vorgegeben sind. Im Luxussegment geht die Entwicklung der Mode dahin, dass bei Modenschauen und den Kollektionen kein Unterschied mehr (zwischen den Geschlechtern) gemacht wird. Im Bereich der Streetwear und der „konventionelleren“ Mode vollzieht sich der Wandel allerdings noch viel langsamer. Auch hier denke ich, lässt sich dies dadurch erklären, dass allgemein die Ansicht verbreitet ist, Nonkonformität in der Mode sei etwas, von dem nur Transpersonen etwas haben. Aber eigentlich profitieren doch alle Menschen davon, wenn man sich nicht so viele Gedanken über vermeintliche Vorgaben machen muss „wie man auszusehen hat“ und sich nicht davon einschränken lassen muss. Als Model zu arbeiten ist toll, es ist befreiend und gibt mir Selbstsicherheit. Ich kann dadurch meinen Weg öffentlich darstellen und zu einem Merkmal der Zeit für den Wandel werden, den die Industrie gerade durchläuft. Es ist wichtig, dass marginalisierte Models nicht als solche eingeordnet werden, sondern einfach nur als Models anerkannt werden, ohne dass man ihrer Arbeit ihre Identität voranstellt.
MR: Schubladendenken hilft dem Gehirn beim Sortieren einer sich kontinuierlich verändernden Welt, indem es die Informationslast mindert. Andererseits aber zwängt stereotypes Denken die Menschen in eine intellektuelle Zwangsjacke. Begreifst Du Dich bei Deinen öffentlichen Auftritten immer als Aktivist*in? Wie können wir diese globale Bedeutung unseres Aussehens überwinden?
JW: Ich mochte es noch nie besonders, als ein*e Aktivist*in etikettiert zu werden. Mir scheint, wenn Trans- und nichtbinäre Personen wie ich ihr Leben mit der Welt teilen, werden sie oft als bahnbrechend oder „change-making“ (Veränderungen bewirkend) bezeichnet. Da lässt man sich schnell mitreißen und meint, man sei den Menschen ständig Umgestaltungen und bahnbrechende Ideen schuldig. Ich zum Beispiel setze mich für die Rechte von nichtbinären und Transpersonen ein, aber deshalb, weil es für unsere Gemeinschaft sehr wichtig ist, dass wir anerkannt werden. Ich bin deswegen noch lange kein*e Aktivist*in, sondern nur jemand, die*der Anteil nimmt und Veränderung möchte. Nicht alle Menschen, die Veränderung wollen, sind Aktivist*innen. Wenn ich so bezeichnet werde, geht dies meist damit einher, dass ich gleich in Narrative eingeordnet werde, die es unmöglich machen, dass ich einfach nur als Autor*in, Model oder eben als Berater*in existieren kann. Ich muss ein*e nichtbinäre Redner*in usw. sein und das behagt mir einfach nicht.
WH: Du beschreibst Dich selbst als eine nichtbinäre Person mit femininem Erscheinungsbild („femme-presenting“) und Du verwendest das Pronomen „sieer“. Wie wichtig ist Sprache für Dich? Und welche Tipps hast Du für Menschen, die sich unsicher sind, wie sie Leute in der LGBTQIA+-Community am besten ansprechen?
JW: Sprache ändert sich und entwickelt sich weiter. Auf der Suche nach meiner eigenen Identität hat sich ganz bestimmt auch geändert, wie ich über mich selbst spreche. Wie wichtig Sprache ist, wird jedoch gar nicht genügend diskutiert. Das Einfachste, was wir als Menschen tun können, damit sich andere Menschen in unserem Umfeld sicher fühlen können, ist, entsprechende Pronomen und eine inklusive Sprache zu verwenden. Für mich bedeutet Sprache Geborgenheit. Durch sie kann ich sicherstellen, dass ich mich in dem Kontext, in dem gerade gesprochen wird, wohlfühlen und entspannen kann. Als Tipp würde ich vorschlagen: Hört auf, die Frage, wie Ihr Eure Sprache ändern könnt, an Eurem Wohlbefinden festzumachen und hört auf damit, Euch selbst dabei in den Mittelpunkt zu stellen. Es ist gar nicht schwer und doch ist die Wirkung, die dies hat, geradezu revolutionär. Ihr benutzt schon das „sieer“-Pronomen. Deine Sprache ist schon genderneutral. Worauf es ankommt, ist, dass diese Sprache mit Respekt einhergeht und dass verstanden wird, wie wichtig dies für die Menschen ist.
For the english version of this article please click here.
* Jamie Windust identifiziert sich als nichtbinär und nutzt das Pronomen „sieer“.