Die Nacht hat viele Gesichter
… einige von ihnen zeigt die Kooperationsausstellung „Im Licht der Nacht“ vom Marta Herford und KAI 10 | ARTHENA FOUNDATION in Düsseldorf. Zeitgleich an zwei Orten erzählt sie von den schillernden Akteur*innen nächtlicher Großstädte und vom Leben im Halbdunkel.
Die Erfindung der Glühlampe setzte im 19. Jahrhundert dem natürlichen Wechsel von Tag und Nacht ein Ende: Erleuchtete Städte, Schichtarbeit und Nachtclubs sind nur einige Facetten dieses veränderten Lebens. Bis heute hat das althergebrachte Motiv der Nacht seine Faszination nicht eingebüßt. Was aber macht den (künstlerischen) Reiz dieses Themas aus? Während sich die Düsseldorfer Ausstellung „Die Stadt schläft nie“ den schillernden Akteur*innen der nächtlichen Großstadt widmet, schlägt das Marta Herford in der Ausstellung „Vom Leben im Halbdunkel“ mit einer historischen Teilübername der Ausstellung „Peindre la nuit“ (Die Nacht malen) aus dem Centre Pompidou-Metz einen großen Bogen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. So wird die vielfältige Geschichte einer entgrenzten Nacht erzählt, die mit der Elektrifizierung einsetzte und mit aktuellen Symptomen bis heute fortgeschrieben wird.
Im Folgenden beantworten Friederike Fast (Kuratorin Marta Herford), Julia Höner (Künstlerische Direktorin KAI 10 | ARTHENA FOUNDATION) und Jean-Marie Gallais (Kurator Centre Pompidou-Metz) Fragen zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden ihrer Ausstellungen und erforschen die (künstlerische) Aktualität des komplexen Themas.
Wie ist die Kooperation zwischen dem Marta, dem KAI 10 und dem Centre Pompidou-Metz zustande gekommen?
Friederike Fast (F.F.): Bereits seit mehreren Jahren kenne ich die Kolleg*innen Julia Höner und Ludwig Seyfarth von KAI 10. Wir schätzen uns sehr und tauschen uns regelmäßig über unsere Projekte aus. So entstand die Idee ein Projekt gemeinsam zu realisieren. Nachdem wir mehrere Themen diskutiert haben, einigten wir uns letztlich auf das vielgestaltige Leben in einer entgrenzten Nacht. Es ist ein Ausstellungsthema, das nicht nur zum Träumen einlädt, sondern auch aktuelle gesellschaftliche Phänomene zur Diskussion stellt. Noch während der Vorbereitungen sprach ich beiläufig mit dem Künstler Navid Nuur über das Nachtprojekt und er erzählte mir von der Ausstellung im Centre Pompidou in Metz, die vor etwa einem Jahr zu sehen war. Die musste ich mir natürlich anschauen. Und als der Kurator der Ausstellung, Jean-Marie Gallais, durch die Ausstellung führte, war sofort klar, dass es toll wäre, einen historischen Kern aus Metz mit zeitgenössischen Beiträgen im Marta Herford zu verbinden. Die besondere Herausforderung für mich lag dann vor allem darin, aus diesen unterschiedlichen Ansätzen ein großes Ganzes zu schaffen, welches das Thema aus einer aktuellen Perspektive erschließt und den Bogen zurück ins 19. und 20. Jahrhundert schlägt. Der Austausch mit den anderen Kolleg*innen war dafür grundlegend wichtig.
Jean-Marie Gallais (J-M.G.): Es ist immer wieder aufregend zu sehen, wie unterschiedliche Museen manchmal fast zeitgleich dieselbe Idee ausarbeiten und die gleichen Werke ausstellen. Der Dialog mit anderen Institutionen bereichert jede Ausstellung. Ausstellungsübernahmen ermöglichen es auch Werke auszustellen, die in dem ersten Projekt nicht ausgeliehen werden konnten, sofern sie anschließend verfügbar sind. Das war nach Ende der Ausstellung in Metz im Frühjahr 2019 der Fall. Es ist sehr anregend für mich zu sehen, wie in Herford der gleiche Ausgangspunkt – die Revolution der modernen Nacht – gewählt wurde und wie verschiedene zeitgenössische Künstler*innen ihn auf unterschiedliche Weise weiterentwickeln.
Jean-Marie Gallais, wie unterscheidet sich die kürzlich beendete Ausstellung vom Centre Pompidou-Metz von der jetzigen Kooperationsausstellung?
J-M.G.: Schon eine Ausstellung vereint so viele Arten der Nacht wie es Werke gibt, die dort gezeigt werden. Man kann sich diesem Thema nur anhand seiner unterschiedlichen Facetten annähern. Jede Nacht ist anders als die vorherige und als die kommende. Die Ausstellung in Metz war historisch angelegt mit einem Schwerpunkt auf Werken aus dem späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert. Die meisten zeitgenössischen Künstler*innen wurden in dem „kosmischen“ Teil gezeigt, verbunden mit der Idee, dass die Nacht und die Abstraktion fundamental miteinander verbunden sind. Diese „Abstraktion“ der Nacht war wahrscheinlich der bedeutendste Unterschied zwischen unserer Ausstellung in Metz und den aktuellen Projekten in Düsseldorf und Herford.
Warum widmen sich diese Kooperationsausstellungen gerade jetzt dem Thema der „Nacht“?
Julia Höner (J.H.): In KAI 10 stand bereits frühzeitig fest, dass wir eine sehr zeitgenössische Ausstellung zum Mythos der Großstadtnacht machen möchten. Natürlich sucht die Nacht alle Orte heim, aber gerade die Großstadt fungiert wie ein Sammelbecken für die vielen, mitunter widersprüchlichen Facetten der Nacht. Eine zeitgenössische Diagnose kann nicht unerwähnt lassen, dass die Stadt nachts umfassend kontrolliert wird, so dass die Bewegungsfreiheit des Einzelnen begrenzt ist, wenn es um die Sicherheit der Allgemeinheit geht – dass dies auch mit der nächtlichen Beleuchtung des öffentlichen Raums zusammenhängt ist unter anderem Thema der Düsseldorfer Ausstellung. Doch vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftlicher Debatten über Vielfalt, gruppenübergreifende Verständigung und eine Zukunft jenseits des binären Geschlechtsmodells, kommt der nächtlichen Stadt eine andere wichtige Rolle zu. Denn hier kann gesagt und getan werden, was der Tag nicht zulässt; trotz zunehmender öffentlicher Kontrolle ist sie nach wie vor ein Garant für ein Denken gegen den Strom politischer und gesellschaftlicher Regelwerke und einen experimentellen Umgang mit Körperlichkeit. So steht die urbane Nacht gerade heute für gesellschaftlichen Wandel, ist aber gleichzeitig auch ein Symbol für die tiefe existentielle Verunsicherung vieler Menschen.
F.F.: Die Nacht ist ein Motiv, das in Literatur und Kunst schon eine sehr lange Tradition besitzt. Dennoch sind gerade in den letzten Jahren ganz neue gesellschaftliche Phänomene mit ihm verbunden. Was mit einer breiten Elektrifizierung begann, wird durch Schichtarbeit sowie den Einsatz neuerer Kommunikationsmittel in der jüngeren Vergangenheit fortgeführt – in der sogenannten 24-Stunden-Gesellschaft scheint sich das klassische Ordnungsprinzip von Hell und Dunkel immer mehr aufzulösen und einem vielgestaltigen Leben im Halbdunkel zu weichen.
Die Nacht hat viele Facetten – welche werden durch die Ausstellung im Marta Herford beleuchtet?
F.F.: Das Marta Herford schlägt mit fast 100 Werken einen großen Bogen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Ein erster Teil in der Herforder Ausstellung beschäftigt sich mit der Wahrnehmung, denn in der Dämmerung sieht die Welt anders aus als bei Tage. Ein Beispiel ist die Lichtarbeit von James Turrell, die den Zustand von Sonnenauf- bzw. -untergang quasi ewig andauern lässt. Ein zweiter Bereich beschäftigt sich mit den weitreichenden Folgen der Erfindung der Glühbirne. So steht einer vermeintlichen Sicherheit, die oftmals mit der nächtlichen Straßenbeleuchtung assoziiert wird, eine gewisse Unruhe gegenüber, die sich vor allem in den nachts erhellten Metropolen dieser Welt ausbreitet. Ein dritter Aspekt zeigt, wie die Nacht zur Bühne wird: Mit Kinos und Theatern wurde in der Moderne als Gegenpol zum künstlichen Licht ein künstliches Dunkel geschaffen, das einen neuen Raum für fantastische Erscheinungen und die bunte Maskerade der „Nachtschwärmer“ bietet.
… und was erwartet das Publikum im KAI 10?
J.H.: In KAI 10 konzentrieren wir die Schau auf zehn künstlerische Positionen, die zum Teil mit größeren Werkgruppen vertreten sind; einige Künstler*innen haben für die Ausstellung sogar ganz neue Arbeiten geschaffen. Im Mittelpunkt stehen die schillernden Akteur*innen der Großstadtnacht, die Menschen, Tiere, hybride Erscheinungen und maschinelle Dinge mit einschließen. Ein echtes Highlight der Düsseldorfer Ausstellung sind die Transparentbilder aus dem 18. und 19. Jahrhundert. In der Gegenüberstellung mit den zeitgenössischen Werken vergegenwärtigen sie die bis heute anhaltende Faszination der Menschen an der nächtlichen Großstadt, die ein wichtiges Reservoir für Erfahrungen jenseits des Alltäglichen darstellt.
Können die kleinen und großen Besucher*innen in den Ausstellungen selbst zu Nachtakteur*innen werden?
J.H.: Bei Claus Richter und Alona Rodeh werden die Besucher*innen selbst zu Nachtakteur*innen, da ihre Rauminstallationen an nächtliche Straßenszenen erinnern. An anderer Stelle treffen die Gäste unseres Hauses auf die geheimnisvolle Nachteule von Ann Lislegaard, die ihnen verschlüsselte Botschaften zuraunt und wie die geisterhaften Fratzen von Matthias Lahme zu jenen schaurig-schönen Wesen gehört, denen man nur des nachts begegnet. Mitten hinein in die Clubszene Berlins führen uns Jenny Kropp und Alberta Niemann, die unter dem Namen FORT zusammenarbeiten. Ihre Arbeit „The Shining“ spielt auf den weltberühmten Club Berghain in Berlin an. Das Zusammenspiel aus Bassrhythmus, Videoprojektion und spiegelnder Tanzfläche verwandelt den Raum in eine Bühne, auf der sich urbanes Nachtleben nachempfinden lässt.
F.F.: Im Marta lässt uns das Ausstellungsdesign von dem Münsteraner Büro Bok + Gärtner lässt das Publikum zu nächtlichen Flaneuren werden – zum Beispiel durch den gezielten Einsatz verschiedener Lichtstimmungen. Zahlreiche Einbauten wie die Tankstelle von dem Künstlerinnenkollektiv FORT oder die Rauminstallation von Martin Boyce verwandeln die Galerien in einen urbanen Raum. Am Ende des Rundgangs erwartet sie dann eine partizipative Installation der israelischen Künstlerin Alona Rodeh. An einer Art Spielkonsole können sie eine eigene Lichtchoreografie entwickeln und zu Akteur*innen auf einer Bühne werden. Mit dem Humor eine Jacques-Tati-Films appelliert die Künstlerin an unseren Spieltrieb und wirft zugleich Fragen zur Nachtbeleuchtung als Mittel der Kontrolle und Überwachung auf. Darüber hinaus sind zahlreiche ausstellungsbegleitende Veranstaltungen geplant, wo wir mit Sicherheit auch gelegentlich bis tief in den nächsten Morgen hinein nachtaktiv sein werden.