„Die Stadt als Vorbild und Inspiration“ – Architekturgespräch mit Jórunn Ragnarsdóttir
Die Stadt als Lesebuch? Dieser anschauliche Vergleich als besonderer Blick auf Architektur und urbane Strukturen war der Ausgangspunkt von Jórunn Ragnarsdóttirs impulsgebendem Vortrag in der Marta-Reihe „Stadt und Vision“.
Bei dieser bereits 25. Veranstaltung fand ich unter anderem bemerkenswert, dass die gebürtige Isländerin, die seit 33 Jahren als selbstständige Architektin arbeitet (Bürogemeinschaft Lederer Ragnardóttir Oei, Stuttgart), ihr Thema dem Publikum entschieden ohne Bildpräsentation zu Gehör brachte: „Die Stadt als Vorbild und Inspiration“ – das mochte die Zuhörer*innen (wie mich) vielleicht umso mehr angeregt haben, nach dem Vortrag und anschließenden Gespräch gegebenenfalls selbst noch Bilder ihres Schaffens zu recherchieren.
Die Vielfalt in der Einheit
Interessanterweise begann die Architektin ihren Vortrag mit der Frage: „Warum ist es bei uns nicht so schön?“ Des Öfteren würden Urlauber sich nämlich damit an sie wenden, wenn diese sich – zurück an ihrem Heimatort – wehmütig an liebgewonnene historische Städte in beispielweise Spanien erinnerten. Ragnarsdóttirs Auffassung nach wären diese Orte, an denen man sich wohlfühlte, von einer besonderen „Vielfalt in der Einheit“ geprägt, die zum Beispiel durch die Unterschiedlichkeit der Fassaden oder Dächer entstünde. Somit hinterließe so ein Urlaubsort einen harmonischen, positiven Gesamteindruck. Im Gegensatz dazu kam mir die Unwirtlichkeit in manchen (deutschen) Städten mit ihren ausgedehnten, eintönigen Straßenzügen aus gleichförmigen Bauten in den Sinn, die teilweise ganze Viertel prägen und alles andere als harmonisch, inspirierend oder identitätsstiftend wirken, besonders, wenn man dort zu Fuß unterwegs ist.
Kommunikation und Langsamkeit im Fokus
Die Referentin kritisierte diese unwiederbringlich zerstörende städtebauliche Entwicklung. Sie sieht jede*n – ob Verwaltung, Grundstückseigentümer*innen oder Bewohnende – in der gesellschaftlichen Pflicht, gemeinsam an der Zukunft der Stadt mitzuwirken. Ihrer Ansicht nach läge diese besonders in der Qualität der Aufenthaltsorte im öffentlichen Raum, an denen Möglichkeiten zur Kommunikation zwischen Menschen gezielt geschaffen werden sollten. Außerdem sollte anstatt der selbstverständlich gewordenen Vorherrschaft des Autoverkehrs die „Langsamkeit“ zum Ausgangspunkt der Stadtraumgestaltung gemacht werden. Thesen aus Ragnarsdóttirs Vortrag und Grundsätze ihrer Arbeit sind auch ihren hier folgenden Antworten auf meine Fragen zu entnehmen, die ich der Architektin nach der Veranstaltung stellen konnte:
Was zeichnet Ihre Arbeit in Bezug auf den Umgang mit Ort und Raum, mit Innen und Außen sowie mit Material aus?
Jórunn Ragnarsdóttir (J.R.): Jede Stadt hat eine eigene Struktur, die über Jahre hinweg gewachsen ist. Sie erzählt ihre Entwicklung über viele Jahrhunderte. Deshalb kann die Stadt wie ein Lesebuch angesehen werden. Die Wände ihrer Straßen und Plätze, die wie Zimmer und Flure einer Wohnung sind, werden von den Fassaden der einzelnen Häuser gebildet. Jeder trägt mit seinem Haus zum Gesamtbild der Stadt bei. Sie ist das Ganze, die Gebäude das Detail, das zum Ganzen beiträgt. Deshalb bauen wir nicht i n der Stadt, sondern a n der Stadt. Daraus wächst die Verantwortung für das Gemeinsame, denn das Stadtbild spiegelte schon immer die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verfasstheiten ihrer Bewohner wieder.

Wie könnte Ihrer Meinung nach eine gute Gestaltung der Städte und beispielsweise von öffentlichen Räumen in den Städten (besser) gelingen, so dass Menschen sich in ihrer Stadt wohlfühlen können?
J.R.: Im digitalen Zeitalter ist die Qualität des öffentlichen Raumes von erheblicher Bedeutung. Die Menschen sehnen sich nach inspirierenden Orten für Aufenthalt und Begegnungen. Sie sehnen sich aber auch nach guter Luft und attraktiven Grünräumen. Wir brauchen dringend ein neues Mobilitätskonzept, wo die Bedürfnisse der Fußgänger im Vordergrund stehen. Von der autogerechten Stadt müssen wir uns verabschieden. Der Mensch mit seinen Wünschen und Lebensvorstellungen sollte bei jeder Planung im Mittelpunkt stehen. Das bedeutet, dass die Menschen in die Planungsprozesse eingebunden sind, und zwar von Anfang an. Mit Teilhabe an der Verantwortung für kommende Generationen können Berge bewegt werden.
Wie würden Sie gute Architektur beschreiben?
J.R.: Jeder Bau eines Hauses kann als Schöpfungsprozess im Kleinen betrachtet werden. Dabei verschmelzen, wie in vergleichbaren kreativen Prozessen der Musik, Malerei oder Dichtung, die technische Ebene, also das schiere Erstellen der Dinge, mit einem Erklärungsmodell unseres Daseins. Von Baukunst kann man erst sprechen, wenn sich der technische Teil mit der Bedeutungsebene im Gleichgewicht befindet.
Aus beiden Dingen EINES zu machen ist wohl die schwierigste Aufgabe beim Entwerfen. Ob das gelingt, lässt sich mit Albertis Postulat leicht prüfen: Wenn nichts hinzugefügt, nichts weggenommen werden kann, sagte er, sei das Haus perfekt. Darum prüfe ständig, ob das, was gemeinhin als Architektur bezeichnet wird, ohne Schaden für das Gebäude weggenommen werden kann, oder umgekehrt, das Bauwerk dem künstlerischen Wollen nicht Stand hält.
Bringen Sie als Isländerin einen besonderen Blick auf Architektur oder Städtebau mit und wie wäre dieser zu beschreiben?
J.R.: Jeder Mensch bringt seine eigene Wertevorstellung in sein Denken und Handeln ein. Ob ich einen anderen Blick habe, kann ich selbst nicht beurteilen. Auf jeden Fall würde ich nicht das Wort besonders dafür nehmen.
Welches Gebäude hätten Sie gerne selbst entworfen oder welches Projekt würden Sie als Ihr persönliches „Meisterstück“ bezeichnen?
J.R.: Oh, da kann ich keine Antwort geben. Es gibt so viele schöne Architekturen in der Welt, die ich bewundere.
Wenn Sie vor ca. 20 Jahren das Marta Herford hätten planen können, wie würde es aussehen?
J.R.: Anders.
