Haltung und Fall erleben – Wie ein Erfahrungsparcours die Wahrnehmung schärft
Die aktuelle Marta-Ausstellung „Haltung & Fall – Die Welt im Taumel“ empfängt die Besucher*innen mit einem Mitmach-Parcours, der das Gefühl von Haltung und Fall sowohl körperlich als auch geistig erfahrbar macht. Da das Begriffspaar gerade für Menschen mit einer Behinderung eine besondere Bedeutung hat, nimmt diese Perspektive im Eingangsbereich der Ausstellung eine wichtige Position ein.
Entstanden ist der interaktive Erfahrungsparcours in den Gehry-Galerien in Kooperation mit dem Johannes-Falk-Haus in Hiddenhausen, einer Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Schüler*innen mit besonderem Förderbedarf werden dort in ihrer individuellen Entwicklung hin zu einem selbstbestimmten Leben unterstützt. Im Johannes-Falk-Haus wird Inklusion nicht als innerschulischer, sondern als gesamtgesellschaftlicher Prozess verstanden. Aus diesem Grund erhalten die Schüler*innen durch verschiedene Kooperationen Gelegenheit, auch außerhalb der Schule Erfahrungen zu sammeln.
Einer dieser außerschulischen Lernorte ist das Marta Herford, wo die Schüler*innen gemeinsam mit den Kuratorinnen und dem Team der Bildung und Vermittlung an einem interaktiven Parcours für die Ausstellung „Haltung & Fall“ arbeiteten. „Durch die Mitwirkung an der Marta-Ausstellung haben die Schüler*innen Gelegenheit, ihre Erfahrungen und Perspektiven miteinzubringen und in gewisser Weise selbst ein Teil der Ausstellung zu werden“, so Anette Austmann, die als Lehrerin am Johannes-Falk-Haus die Zusammenarbeit betreute.
Wenn Haltung & Fall eine wörtliche Bedeutung haben
Der Wunsch nach einer Kooperation bestand zwischen Marta-Direktor Roland Nachtigäller und Schulleiter Axel Grothe bereits seit langer Zeit. Mit der aktuellen Ausstellung schien der perfekte Moment gekommen zu sein, um diesen Wunsch zu realisieren, da Haltung und Fall, Orientierung und Taumel, Kontrolle und Kontrollverlust für Menschen mit einer Behinderung eine ganz wörtliche Bedeutung haben.
Im Alltag sehen sich Menschen mit einer Behinderung häufig einer großen Fremdbestimmung gegenüber. Immer wieder müssen sie für Selbstbestimmung eintreten, eine Haltung einnehmen. Gleichzeitig spielen Themen wie Kontrolle abgeben, Vertrauen haben und sich fallen lassen eine große Rolle. Wie schwer das ist, merkt man als Marta-Besucher*in spätestens, wenn man auf dem kleinen Treppenpodest im Eingangsbereich steht und sich rücklings auf eine große blaue Matte fallen lassen kann.
Auch bei anderen Stationen lässt sich der Ausstellungstitel am eigenen Körper erfahren: Wer den hölzernen Hula-Hoop-Reifen schwingt, braucht nicht nur Ausdauer, sondern auch jede Menge Körperspannung, um die Schwerkraft zu bezwingen. Eine Herausforderung für den Gleichgewichtssinn sind die kleinen Balance-Boards, die die Welt – zumindest für kurze Zeit – ins Wanken geraten lassen. Der Erfahrungsparcours fordert von den Besucher*innen aber auch eine geistige Haltung ein. Der große Spiegel regt mit einer kritischen Frage zum Nachdenken an: Darf der Körper meine gesellschaftliche Rolle bestimmen? Für Menschen mit einer Behinderung ist dies zwangläufig der Fall, da sie im Alltag immer wieder Barrieren begegnen, die sie von einer gesellschaftlichen Teilhabe ausschließen.
Barrieren sind nicht immer physisch
Beim Thema Barrierefreiheit denkt man häufig erstmal an Aufzüge oder Rampen für Rollstühle. Doch Barrieren sind nicht immer physisch, sie haben nicht immer die Gestalt von Treppen oder Bordsteinkanten, sondern können sich ebenso als Vorurteile manifestieren. Auch Sprache kann eine Barriere darstellen, zum Beispiel wenn diese für einige Menschen nicht verständlich ist. Angeregt durch das Johannes-Falk-Haus finden sich in der Ausstellung dieses Mal nicht nur Texte auf Deutsch und Englisch, sondern auch in Leichter Sprache. Mit dieser Dreisprachigkeit versucht das Marta, sprachliche und kognitive Barrieren abzubauen und die Inhalte möglichst vielen Besucher*innen zugänglich zu machen.
Die Leichte Sprache zielt auf eine einfache Verständlichkeit ab. Sie besteht aus kurzen Aktivsätzen, verzichtet auf Fremdwörter und abstrakte oder bildliche Begriffe, hat aber auch typografische Eigenheiten: Zusammengesetzte Wörter werden für eine bessere Lesbarkeit durch Bindestriche getrennt. Aber: Leichte Sprache ist keine Kindersprache, sondern eine Hilfe für Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen eine eingeschränkte Kompetenz in der deutschen Sprache haben – zum Beispiel Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Demenz, Menschen, die nicht so gut Deutsch sprechen oder nicht so gut lesen können.
Ein Museum für alle
Im Marta werden die Texte in Leichter Sprache von allen Besucher*innen positiv aufgenommen, auch weil sie durch ihre einfache Zugänglichkeit die komplexeren Ausstellungstexte ergänzen. Mit geradlinigen Thesen und direkten Fragen wie „Muss die Haltung immer gesagt oder gezeigt werden?“ regen sie zum Reflektieren an und eröffnen Gespräche über wichtige gesellschaftliche Themen.
Für das Marta-Team ist die Zielsetzung, möglichst vielen Menschen einen Zugang zu Kunst, Design und Architektur zu ermöglichen, ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit. Auch in Zukunft sollen vorhandene Barrieren weiter abgebaut werden, um dem Leitbild des ‚Museums für alle‘ näher zu kommen. Ausstellungen wie „Haltung & Fall“, Führungen für Blinde und Sehbehinderte oder mobile Sitzgelegenheiten spielen dabei eine große Rolle. Wichtig für die Arbeit in Richtung Barrierefreiheit sind aber auch Kooperationen wie die mit dem Johannes-Falk-Haus, da sie neue Impulse geben, kritisch hinterfragen und dazu ermutigen, neue Wege zu gehen – zum Beispiel hin zu Leichter Sprache.
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