Im Sauseschritt
Angekündigt wurde mein Start in einem der Interviews damit, dass ich „mit einem Koffer voller Ideen“ (WB, 26.1.22) angereist käme. Damals hätte ich nicht gedacht, wie schnell man das alles hier in Herford umsetzen kann – das gelingt nur, dank so vieler helfender Hände, offener Herzen und kreativer Kräfte! Angekommen nach rund einem Jahr, möchte ich Ihnen einen Ausblick auf die geschmiedeten Pläne geben, die nun tatsächlich Realität werden – angefangen von räumlichen Veränderungen bis hin zu großen Ausstellungen.
Seit einigen Wochen können Sie vor dem Marta Herford ein neues Kunstwerk sehen: In der Text-Bild-Arbeit der ukrainischen Künstlerin und Schriftstellerin Yevgenia Belorusets auf dem Marta-Billboard lesen Sie den von einer Hauswand abfotografierten, mit Spraydose geschriebenen und dann durchgestrichenen Text „Das ist nicht unser Krieg“. Dieses Bild hat sie überschrieben mit dem Satz „Das ist mein Krieg“, wobei auch eines von drei „mein“s durchgestrichen ist.

Sichtbar Machen
Etwas Durchstreichen bedeutet es unkenntlich zu machen, aber nicht zu löschen. So können wir beim Betrachten der anderen Seite der Plakatwand mit dem Titel „Linien“ (2022) fragen, welche weiteren Texte und damit Informationen, Einsichten oder Zugeständnisse sich unter den hier nur noch als Linien erkennbaren, horizontalen Strichen verbergen könnten – oder anders gefragt, was sind die blinden Flecken, die wir versuchen mehr oder weniger wegzuradieren?
Yevgenia Belorusets wurde im Kontext der Ausstellung „Dark Data“ von Tobias Zielony eingeladen, um das Billboard vor dem Marta als Störer zu nutzen und gleichzeitig Stimmen von ukrainischen Künstler*innen zu Wort kommen zu lassen. Auch in diesem schönen Blog und in zahlreichen neuen Formaten in unserem Programm, schaffen wir immer wieder Raum, in dem die Künstler*innen selbst sprechen können.
Die Ausstellung von Tobias Zielony bildete den Auftakt zu einer Reihe von Ausstellungen, die in den oberen Räumen des Altbaus, der Lippold-Galerie, auch künftig eine intimere Auseinandersetzung mit einzelnen Positionen ermöglichen sowie identitären Fragen aus verschiedenen Perspektiven nachgehen werden. Medial fokussieren wir uns hier auf klassische Präsentationsformen bildnerischen Arbeitens, vor allem Wandformate, wohingegen in den großen, geschwungenen Gehry-Galerien installative und durchaus auch abstraktere Formate im Bezug zur Architektur in situ die Räume einmal mehr dynamisieren.
Menschenbilder
So wird sich in der Lippold-Galerie mit der bislang größten musealen Einzelausstellung der heute 65-jährigen Fotografin und Filmemacherin Annette Frick ein authentischer Blick auf vermeintlich marginalisierte, kreative Persönlichkeiten eröffnen. Frick portraitiert seit den frühen 1980er Jahren Künstler*innen, Musiker*innen, Tänzer*innen und Schriftsteller*innen aus der queeren Szene und setzt auch ihren eigenen Körper als Medium in Relation zur Natur in Szene. Bei der Sichtung ihres Oeuvres wurde klar, dass das Marta Herford mit dieser Ausstellung einen Schatz einer Künstlerin heben und erstmalig breiter präsentieren wird: Frick kann als Vorreiterin heute breit diskutierter Fragen von Identität und (Selbst-)Darstellung gesehen werden.

Stretch Your View*
Das „neue“ Programm im Marta Herford steht für Perspektiven auf unsere Gegenwart und so war es mehr als logisch, zu meinem Start die hauseigene Sammlung in den Gehry-Galerien auszubreiten und gleichzeitig einige Leihgaben zu präsentieren, die als zukünftige Ankäufe sinnvoll wären, um die weiblichen Positionen in unserer Sammlung zu erweitern.
Mir war es wichtig, komplett auf Einbauten zu verzichten, um bereits hier die wunderbare Architektur zu nutzen und so wurden u.a. einige gerade Wände sogar entfernt, die 2005 vor die schönen Kurven gebaut wurden und seitdem hier stehen geblieben waren. Frei nach dem Motto *„Erweitere Deinen Blick“, um den Ansatz von Okwui Enwezor für das Haus der Kunst zu zitieren, möchten wir in Zukunft offene Szenarien anbieten und auch das gesamte Haus im Sinne des Vorreiters der Erfahrungsräume, Alexander Dorner, als Kraftwerk bespielen. So wurde auch das Café nach einem Konzept von unserem Ausstellungstechniker Michael Train hell umgestaltet und wir haben begonnen die zweite Etage unseres Altbaus (barrierearm!) für ein großes Atelier, eine erstmalig öffentliche Bibliothek und Arbeitsräume umzubauen.
„Ungehorsame Werkzeuge“
Seit der Gründung des Museums Marta Herford hat es in den Gehry-Galerien in der bisherigen Programmatik wenige Einzelausstellungen gegeben und bisher nur von einer weiblichen Künstlerin: Asta Gröting (2006). Nun wird die brasilianische Künstlerin Cinthia Marcelle hier materialintensive, raumgreifende Installationen und bildgewaltige Videoarbeiten präsentieren, in denen alltägliche Handlungen zu poetisch-metaphorischen Bildern werden. Vertraute Sicht- und Verhaltensweisen, wie wir die Welt sehen und unsere Rolle darin begreifen, werden in dieser, von Anna Roberta Goetz kuratierten, Schau aus den Angeln gehoben. Ich gehe davon aus, dass diese Ausstellung polarisieren wird, denn produktiv eingesetzter Ungehorsam kann Berge versetzen oder zum Schmunzeln anregen.

Marta Sounds like…
An windigen Tagen fängt das Marta Herford an zu singen: Die Luft strömt durch viele, unsichtbare Korridore durch das Haus und bringt so das vielschichtige Gebäude zum Klingen. Wir möchten das Haus als Resonanzkörper nutzen und gemeinsam mit Künstler*innen erfahrbar machen – das ist physisch, sinnlich, aber auch metaphorisch und inhaltlich gemeint. Die kommenden Ausstellungen, Gespräche, Vorträge, Konzerte, Performances und Workshops laden Sie ein, Teil dieses Experiments zu sein – als Agora, als Marktplatz, als Studienraum, als Genussraum und gerne synästhetisch! Wie klingt das?
Mit herzlichen Grüßen zum noch neuen Jahr,
Kathleen Rahn