Sprechen über Schweigen
Können Engel sich im Spiegel betrachten? Wohin fliegt dieses pulsierende Knäuel? Was macht eigentlich Glenn Gould neben dem Kirchenfenster? Ein neues Werk der Sammlung Marta stellt Fragen über Fragen, denen wir uns in einem spannenden Dialog stellen.
Diese Fragen entstehen, wenn ich als Kunsthistorikerin gemeinsam mit meiner Kollegin, der Künstlerin Angelika Höger, vor dem neuen Werk in der Sammlung Marta stehe und wir uns einen Eindruck von diesem Bild machen. Es geht um das zweiteilige Werk „Schweigen I“ von Brigitte Waldach, das die Künstlerin für ihre Ausstellung anlässlich des Marta-Preises der Wemhöner-Stiftung 2020 gefertigt hat. Schon mit seiner eigenwilligen Hängung über Eck zieht es alle Blicke auf sich.

Was spricht dich am Bild besonders an?
„Es klappt sich auf wie ein Buch. Das rechte Fenster spiegelt sich im linken und umgekehrt. Durch die Anordnung bildet sich ein Raum, in den wir hineinschauen können.“ Ich staune nicht schlecht, als meine Kollegin mir auf die Frage antwortet. „Was spricht dich an dem Werk von Brigitte Waldach besonders an?“ Gemeinsam haben wir uns auf den Weg gemacht, dieses Werk zu erkunden, denn vier Augen sehen ja bekanntlich mehr als zwei. Je länger ich mich mit Kunst befasse, umso mehr schätze ich den Dialog mit Kunstliebenden über ein Werk. Unglaublich ist es, was man da an neuen Perspektiven auf die Kunst und auf das Leben erfährt. Deshalb rede ich so gerne mit den Marta-Besucher*innen über Kunst und über ihre Sicht auf sie. Ich bin deshalb schon ganz gespannt, was Angelika Höger weiter in dem Werk sieht.
Wo sehen wir, was wir zu sehen glauben?
„In meiner Wahrnehmung öffnet sich hier ein großer Assoziationsspielraum“, führt sie weiter aus. „Es kommt Licht ins Dunkel. Die großen Fenster haben viele Facetten. Ein Engel betrachtet sich im Spiegel. Der Spiegel ist oberflächlich. Der dargestellte Musiker wirkt auf mich, als habe er in sich gekehrt in den Raum gelauscht und sich dann plötzlich umgedreht weil er etwas Unerwartetes bemerkt hat. Automatisch schaue ich in die Richtung, in die er schaut und fange an, den Raum genauer zu betrachten. Ich werde zum Spiegel seiner Haltung.“
Dann bin ich dran. Ich beschreibe die Kirchenfenster mit ihren Symbolen, dem erwarteten Bildprogramm, das für mich erst einmal ausbleibt, die anonyme Masse der dargestellten Figuren. Und ich erkläre, dass ich an einem bestimmten Punkt aus dem anstrengenden Denkprozess, der sich vieles aus der Kulturgeschichte herleiten will, aussteige und mich nun auf Farben und Formen konzentriere. Anhand von Angelika Högers Sicht wird mir plötzlich klar, dass das Werk mich an diesem Punkt weg vom Denken hin zum Sehen geleitet hat. Wir haben uns von unterschiedlichen Betrachtungsweisen an das Werk angenähert und an diesem Punkt haben wir uns auf die Sicht der jeweils anderen eingelassen. So hat sich uns eine andere Perspektive eröffnet und wir haben noch viel mehr erfahren. Inhaltliches und Formales haben sich in einem spannenden Prozess ergänzt.
Das gemeinsame Betrachten war eine echte Bereicherung für diesen Prozess. Wir haben uns in unseren Beobachtungen ergänzt, haben uns immer wieder gefragt: „Wo genau sehen wir das, was wir glauben zu sehen?“ Das hat uns von manchen Umwegen wieder zum Werk zurückgebracht. Und wir konnten feststellen, dass man die komplexen Denkprozesse von Brigitte Waldach an den dargestellten Bildelementen ablesen kann, wenn man sich auf ihre Figuren und Symbole, die Engelfigur, den Davidstern, das Kreuz u.v.m. näher einlässt. Schließlich haben wir an den vorhandenen mehrfachen Spiegelungen erkannt, dass wir auf uns und unsere Situationen zurückgeworfen werden und die Künstlerin uns dadurch eine große Freiheit im Denken eröffnet. So hat uns auch die Art der Oberfläche mit dem ganz speziellen Schimmer der dichten Bleistiftschraffur Denkanstöße gegeben.
Gegensätze ziehen sich nicht nur an
Wir haben entdeckt, dass in den zentralen Kreisen der beiden Kirchenfenster Elemente wie Schrift, Farben und Symbole einander exakt gegenüberstehen, dass sie sich tatsächlich und im übertragenen Sinne spiegeln und sich die thematisierten Gegensätze gar nicht mehr so fremd sind. Bei aller thematisierten Unterschiedlichkeit, z.B. der Religionen und Weltanschauungen, drückt das Werk von Brigitte Waldach den philosophischen Gedanken aus, dass es auch eine Verwandtschaft im gegensätzlich anmutenden Gegenüber geben kann.
Die eingebundenen Wortelemente, die mit dem Hashtag-Zeichen der Social-Media-Welt versehen sind, haben uns die Verbindung zum Jetzt und die Möglichkeit, uns mit der Gedankenwelt unserer Zeitgenossen zu verbinden, gezeigt. So können wir unsere Perspektiven durch die vieler anderer jederzeit noch erweitern und von weiteren Sichtweisen profitieren. #Echo, #Ideologie und #Welt laden ein zum Entdecken und Weiterdenken.
Ein buntes Knäuel lässt Federn

Das über Eck gehängte Diptychon der Sammlung Marta wird durch ein weiteres Werk (Schweigen II) von Brigitte Waldach in der Ausstellung „Schimmer und Glanz“ ergänzt. Es befindet sich an der Wand gegenüber dem ersten Bild. Es zeigt ein weiteres Kirchenfenster, das im oberen Bereich in einem ganz zentralen Punkt zerbrochen ist. Daneben befindet sich ein farbiges Knäuel, das mit einer brodelnden Energie aufgeladen zu sein scheint. Meine Kollegin und ich waren uns einig, dass das Kirchenfenster von diesem farbigen Knäuel zerstört wurde, denn einige der Zersplitterungen sind markiert von den Farben des bunten Elements, das in hoher Geschwindigkeit durch Zeit und Raum zu fliegen scheint. Und auch das Knäuel scheint an dieser Stelle Federn gelassen zu haben. Unterschiedlich waren wieder unsere Sichtweisen, ob das Knäuel aus dem Inneren heraus, oder von außen in das Kirchenschiff hinein fliegt. Beides wäre möglich, wenn wir uns an den gegebenen Bildelementen orientieren. Für uns war dieses leuchtend farbige Element, das mich vom ersten Augenblick so sehr in seinen Bann gezogen hat, so etwas wie ein Schlusspunkt in diesem Werk von Brigitte Waldach. Ein sehr reizvoller Schlusspunkt, der mit seinen Farben und seiner pulsierenden Form eine Art Verheißung im Raum hinterlässt, die den Spiel- und Denkraum für hoffnungsvolle Ideen eröffnet und der das eigentliche Thema des Werkes, das Schweigen, vielversprechend sprengt.
Mit unseren ganz unterschiedlichen Erfahrungen haben wir uns in der Betrachtung des neuen Kunstwerks der Sammlung Marta ergänzt und unseren Dialog bereichert. Wir haben von der Perspektive der anderen profitiert und am Ende einige Erkenntnisse im Bild gefunden, die wir beide mit unseren beobachtenden Augen darin entdeckt haben. Ganz im Sinne von Immanuel Kant, der es so ausgedrückt hat: „Die Erfahrung sinnlicher Objekte führt zur Erkenntnis.“