Staunen 2.0: Zwischen Irritation und Müßiggang
Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen hat sich mir fest eingeprägt. Irgendwo an einem Schreibtisch sitzend hat mein Großvater ein großes Stück Zeitung zu einer Rolle geformt, bläst genüsslich den dichten weißen Rauch seiner Zigarre stoßweise in das lange Rohr und beobachtet wie sein Enkel völlig gebannt, staunend und entgeistert die weißen Ringe aus Rauch verfolgt.
Aus dem heutigen idealisierenden Rückblick muss mein Staunen extrem gewesen sein. Nie wurde mir bei dieser Lehrstunde langweilig und ich konnte sogar dabei etwas Neues lernen: Etwas entstand wie aus einem rätselhaften Nichts und konnte ebenso schnell und wieder in einem unbekannten Nichts entschwinden.
Was werden heutige Vier- oder Fünfjährige in ca. 50 – 60 Jahren von ihrer gegenwärtigen Kindheit erinnern? Die Zeit der Zigarre rauchenden Großväter wird dann ja schon über 100 Jahre vorbei sein. Und wird es in 50 Jahren überhaupt noch das Phänomen des kindlichen Staunens geben? Ich fürchte das Staunen wird sich dann in etwas Neues, vielleicht in uns noch unbekanntes Registrieren von Neuem verwandelt haben.
Irritation als Staunen 2.0
Die Standardreaktion heutiger Betrachter*innen zeitgenössischer Werke kennt – leider, wie ich finde – nicht mehr unbedingt das naive Staunen, sondern eher die abgeklärte, wissende Irritation. Eine ästhetische Atmosphäre, die uns in ein fast kindlich-naives Staunen zurückversetzt, ist äußerst selten geworden – Olafur Elisson und James Turrel bilden bekannte Ausnahmen. Die Irritation dagegen ist heute zu einer Art Staunen 2.0 geworden. Wer heute in einer Kunstausstellung – aber auch außerhalb von Museumsräumen – irritiert reagiert, befindet sich gewissermaßen zwischen den Stühlen. Weder ist man noch wirklich erstaunt noch weiß man genau Bescheid, was da eigentlich geschieht. Irritiert zu sein verkörpert eine zutiefst gegenwärtige Erfahrung von Ambivalenz: Sie erzeugt einerseits Stress, weil man von sich selbst erwartet, das Unbekannte für sich klären zu können und betrachtet andererseits eine Irritation als eine Art halb bewusste ästhetische Lust, die das eigene kreative Handeln auszeichnet.
Der Müßiggang als schöpferische Nichtarbeit
Eine, der Irritation von Ferne verwandte Größe, ist ein entspannter Zustand, der ebenso wie diese einen ambivalenten Status besitzt: Müßiggang – ein Zeitraum, der, wie der Name sagt, früher den Museen vorbehalten war. Siegfried Lenz hat 1963 in einer wunderbaren kleinen Miniatur unter dem Titel „Gelegenheit zum Staunen“ dem Müßiggänger ein Denkmal gesetzt: „Dem Müßiggang liegt eine definitive Entscheidung zugrunde: man ist bereit, das Nichtstun auszukosten, auszubeuten, auf absichtslose Weise aktiv zu sein. Somit ist Müßiggang alles andere als eine Ermattung des Geistes. Der verständige Müßiggänger lehnt es ab, sich mit Betriebsamkeit zu betäuben, da er es durchaus bei sich selbst aushält. ….der Müßiggang wird zu einem aufregenden Zustand.“ (Anm.1)
„Schöpferische Nichtarbeit, produktives Träumen“, hat Siegfried Lenz in seinem Text den Müßiggang auch genannt und wollte damit auch sehr bewusst gegen die damals einsetzende „Arbeitswut“ in „Wirtschaftswunderland“ Deutschland Einspruch erheben. Heute lesen sich die Gedanken von Lenz wie aus einer anderen, aus der Zeit gefallenen Gegenwart. Aus der unschönen deutschen „Arbeitswut“ ist längst die globale smarte „Arbeitsverdichtung“ geworden.
„Selbstbewusst hellwach stillsitzen nichts tun“
In der zeitgenössischen Kunst, die uns dauerhaft und nachhaltig zur Irritation und zu einem mentalen Müßiggang einlädt, können wir zutiefst Gegenwartsgläubigen auch erfahren, was es heißt, einmal und sei es nur für kurze lichte Momente wortwörtlich nichts zu tun – um vielleicht auch diese Erfahrung sogleich umso produktiver in die nächste Zukunft, eine nächste Idee oder ein nächstes Investment zu verwandeln. Die Fähigkeit, sich seiner selbst geistesgegenwärtig zu versichern, wird zukünftig mehr und mehr zu einem sozialen Kapital werden – nicht nur von Künstler*innen sondern vor allem auch von Seiten des immer selbstbewusster werdenden Publikums.
Interessanterweise hat 1964, nur ein Jahr nach Siegfried Lenz‘ hellsichtiger Hommage an den Müßiggang, Robert Fillou eine künstlerische Handlungsanweisung entwickelt, die bezeichnenderweise diesen Titel trug:
“… nicht entscheiden nicht auswählen nicht wollen nicht besitzen. Selbstbewusst hellwach stillsitzen nichts tun.“ (Anm.2)
(Anm.1) Siegfried Lenz, Essays 1, 1955- 1982, Hamburg 1997, S. 143.
(Anm.2) Zit. n. Angeli Janhsen, Was tun? Künstler machen Vorschläge. Freiburg 2018, S. 42.