Wie wollen wir leben?
Rasante Umbrüche prägten zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Lebensalltag in ganz Europa. So hinterließen die Industrialisierung, die Entwicklung der Großstädte und nicht zuletzt das Chaos des Ersten Weltkriegs deutliche Spuren auch in den Niederlanden. Mitten in diesen turbulenten Zeiten entstand dort die internationale Kunstbewegung De Stijl.
Ihre Mitglieder wollten mit gestalterischen Mitteln einen Ausweg aus diesem Chaos finden, indem sie mit einem neuen „Stil“ auch die Gesellschaft erneuerten. Das Bedürfnis nach einem geordneten, einfacheren Leben war auch der Ausgangspunkt für die Wahl der geeigneten Mittel: Diese Revolution sollte Rotgelbblau sein.
Indem die Künstler eine universelle, überindividuell gültige Geometrie einsetzten, sollte dem irrationalen Handeln etwas entgegengesetzt werden. Wo Chaos und Zerstörung herrschte, würde durch den konzentrierten Einsatz von Farben und Formen eine Harmonie entstehen, die sich von der Kunst schließlich auf alle Bereiche des Lebens übertragen sollte. 1919 trat Gerrit Rietveld der De-Stijl-Gruppe bei. Auch er träumte von einer neuen Gesellschaft ohne Konkurrenz und Gewinnmaximierung, in der „jeder mit Hilfe von Maschinen zur Erfüllung der allgemeinen, materiellen Bedürfnisse beiträgt und in der alle gleichberechtigt sind.“

Architektur als „Raumkunst“
Seine Entwürfe waren experimentell, richteten sich an eine breite Masse und sollten vor allem ästhetisch wertvoll sein. Um eine Schulung der sinnlichen Wahrnehmung zu befördern, brach er gezielt mit bürgerlichen Traditionen. Architektur verstand er als eine „Raumkunst“, die nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Menschen verändert. Die Frage nach dem richtigen Leben wurde aber nicht erst von den Künstler*innen und Gestalter*innen der Moderne artikuliert. So finden sich bereits seit der Antike utopische Weltentwürfe wie der Mythos vom Inselreich Atlantis. Thomas Morus prägte schließlich mit seinem sozialutopischen Entwurf von 1516 den Begriff der Utopie, der sich aus dem Griechischen „ou“ (nicht) und „topos“ (Ort) zusammensetzt. Er bezeichnet einen fiktiven Ort, der nicht unbedingt auf konkrete Umsetzung abzielt, sondern auch dazu anregt, über alternative Welten nachzudenken und dieser Vorstellung dann so nah wie möglich zu kommen. In den 1990er Jahren wurde mehrfach ein „Ende der Utopie“ proklamiert. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stand das totalitäre Potential solcher Weltentwürfe zur Debatte, der Anspruch auf universelle Wahrheiten war fraglich geworden und ein grundlegender Zweifel am Fortschrittsgedanken schien begründet.
Rietveld und die zeitgenössische Kunst
Vor dem Hintergrund dieses Diskurses überrascht es nicht, dass auch zeitgenössische Künstler*innen die Frage nach ihrer heutigen Gültigkeit stellen: Muss die ästhetische Utopie von De Stijl bzw. von Gerrit Rietveld als gescheitert angesehen werden? Was lässt sich daraus schließen, dass der „Rot-Blaue Stuhl“ von Rietveld heute nicht wie ursprünglich gedacht, einfach und günstig zu erwerben ist, sondern als hochpreisige Designikone in Museen präsentiert wird? Wie lässt es sich heute in dem Rietveld-Schröder-Haus in Utrecht leben, das zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt und als Museum Tausende von Besuchern empfängt? Ist De Stijl nicht vielleicht schon längst zu einer reinen Marke mutiert, aus der Modedesigner wie Yves Saint Laurent ökonomischen Gewinn erzielen? Zugleich verweisen die zeitgenössischen Werke auf den Wohlstand hoch entwickelter Industriestaaten, während industriell weniger entwickelte Länder weit dahinter zurückbleiben.
Ganz im Sinne von Gerrit Rietveld sensibilisieren die Künstler*innen aber auch für die visionäre Kraft der De–Stijl–Entwürfe, indem sie ihrerseits mit gewohnten Wahrnehmungszusammenhängen brechen, den experimentellen Geist einer Do-it-yourself- Ästhetik aufgreifen oder die Konstruktionsweisen von Rietveld zu wuchernden Strukturen verdichten, die in Konkurrenz treten zur spektakulären Marta-Architektur von Frank Gehry. Auch das lustvolle Spiel mit Normen und Standardisierungen oder die Frage „Was wäre wenn?“ ist letzten Endes Ausdruck eines intakten Glaubens daran, dass man das Leben verändern kann. Künstler*innen werden zu Katalysatoren und das Museum zu einem Ort, an dem Alternativen zum Bestehenden erprobt werden können.

Hinweis:
Die Ausstellung „Revolution in Rotgelbblau“ ist noch bis zum 4. Februar zu sehen.