„Acres of mental space” – Tacita Deans gefundene Landschaften
Landschaftswahrnehmung ist im Werk von Tacita Dean so zentral wie ihr Umgang mit analogem Film. An Beispielen der Ausstellung „Trügerische Bilder“ zeigt Nadine Henrich, Kunsthistorikerin mit Schwerpunkt Fotografie, wie die britische Künstlerin Fundbild und Handschrift, Mythos und Gegenwart in ihren Fotogravüren zu raumgereifenden, narrativen Bildsequenzen verbindet: acres of mental space.
Um sich den zentralen Themen Zeit, Film und Landschaft im Werk der Künstlerin Tacita Dean anzunähern, kann man im ersten Schritt darüber nachdenken, an welchem Ort ihre Wahrnehmung geschult wurde. Welche Naturerlebnisse und Zeiterfahrungen begleiteten Deans Jugend und schufen Erinnerungen? Die britische Künstlerin, geboren in der mittelalterlich geprägten Domstadt Canterbury, besuchte die Schule in der beschaulichen Hafenstadt Falmouth, im Süden Englands. Der genuine Umgang mit analogem Film, der heute Deans Position in der globalen Kunst der Gegenwart charakterisiert, bleibt – bis sie zum Studium nach London zieht – ein Phantom, denn Dean wächst ohne Kino, umgeben von historischen Architekturen, weiten Wiesen und stürmischen Felsenküsten auf.
Nach dem Studium in London zieht sie nach Los Angeles und später nach Berlin – in jenen Großstädten wird die einsame Naturerfahrung mehr und mehr eine Erinnerung ihrer britischen Kindheit, die sie jedoch auf Reisen, motiviert durch Landschaftserlebnisse weiterverfolgt. Ihre Suche nach Natureindrücken, die sich auch als wiederkehrende Motive ihrer Werke manifestieren, wurzeln in den Betrachtungen der britischen Küste, den Weiten der Landschaft in Deans frühen Jahren.
Sich im Meer verlieren: „T & I“ 2006
In der Ausstellung „Trügerische Bilder“ lassen zwei Werke, deren Entstehung zwölf Jahre auseinander liegen, die Landschaft als kontinuierliches Vehikel zu den Themen Zeit, Geschichte und Narration erkennen, die für Deans Werk zentral bleiben. Beide Werke sind im fotografischen Tiefdruckverfahren der Fotogravüre (Heliogravüre) ausgeführt. Das aufwendige Verfahren zeichnet sich durch Belichtung und die Herstellung von Halbtönen aus, die eine Schichtung unterschiedlich intensiver Tonalitäten erlauben. Die aus fünfundzwanzig Elementen bestehende Arbeit „T & I“ aus dem Jahr 2006, birgt nahezu exemplarisch ein Spektrum unterschiedlicher künstlerischer Strategien, die Dean in ihren Landschaftsbildern verbindet: Das Werk nimmt seinen Ausgangspunkt in einem fotografischen Bildfund, den Dean zum Anlass für einen Prozess der Überarbeitung durch Vergrößerung, Fragmentieren, handschriftliche Einschreibungen und Revisionen nimmt.
Von Kontemplation zu Leseversuchen
Eingangs lädt „T & I“ in seiner Ganzheit zu einer kontemplativen Betrachtung ein, bis in Annäherung der Rezeptionsmodus kippt, indem die einzelnen Bildsegmente zur entziffernden Lektüre verführen. „T & I“ lässt auf verschiedenen Ebenen narrative Elemente erkennen: die Zergliederung des Ausgangsmotivs in fünfundzwanzig Elemente schafft den Eindruck kinematische Einstellungen zu überblicken, die in Kombination mit den Textelementen wie »Start« auf Blatt 1, „Dispute“ auf Blatt 2, oder „BLIND FOLLY“ auf Blatt drei, Bild und Schrift zu offenen, fragmentierten Erzählungen verknüpfen. Inhaltlich verweist das Werk auf die mittelalterliche Legende des unglückseligen Liebespaares Tristan und Isolde, ein Textfragment, verfasst von Gottfried von Strassburg um 1200. Diese historische Erzählung verknüpft Dean mit der realen Tragödie des verschollenen Briten Donald Crowhurst, der 1968 von dieser Küste zum Sunday Times Golden Globe Race aufbrach und von seiner Weltumfahrung nie zurückkehrte. Bereits 1996 widmete sich Dean in ihrem 16 mm Film „Disappearance at Sea“ seiner tragischen Geschichte und des Orientierungsverlusts auf offener See. Das Meer wird dadurch zu einem überzeitlichen Schauplatz historischer Legenden und realen Ereignissen der jungen Vergangenheit, die sich in den Bildebenen verweben.

Quarantania: Der Berg der Versuchung
Die siebenteilige Fotogravüre mit dem Titel „Quarantania« aus dem Jahr 2018 ist ein weiteres jener mehrteiligen, großformatigen Werke, die Naturbetrachtung mit einem Netzwerk von handschriftlichen Einschreibungen durchsetzen. Auf einem enormen, horizontal ausgerichteten Format von 247 x 757 cm eröffnet „Quarantania“ den Betrachtenden nicht nur einen fiktiven Bildraum, sondern auch einen realen Raum, indem die Dimensionen der Bildoberfläche das epische Motiv über die menschlichen Proportionen hinaus entwerfen. Auch hier bildet der fotografische Bildfund eines historischen Aluminiumabzuges den Ausgangsimpuls. Eine karge Wüstenlandschaft, geprägt durch einen schroff aufragenden Berg, erstreckt sich vor einem kaminrot leuchtenden Himmel.
Found temptation
Der Bildtitel verrät den Namen des Ortes, Quarantania, in der Nähe Jerichos und der Elisäusquelle. Er basiert auf einer falschen Aussprache des lateinischen Wortes Quarentena. Die Relevanz der Zahl vierzig geht auf die Anzahl der Fastentage zurück und verweist auf den Berg der Versuchung im Westjordanland als Schauplatz der biblischen Erzählung: Nach 40 Fastentagen versetzte der Teufel Jesu auf den 492 Meter über den Spiegel des Toten Meeres aufragenden Gipfel des Felsenberges. Die handschriftlichen Textelemente des Bildes durchziehen Landschaft, Berg und Himmel, verweisen formal auf die Heilige Schrift als Referenz, erweisen sich bei genauen Lektüreversuchen jedoch wie so häufig im Werk Deans als subjektive Kommentare oder kinematische Regieanweisungen. In der oberen rechten Bildecke, vor intensivem Rot des Himmels, findet sich die Inschrift „found temptation“ – eine doppeldeutige Botschaft, die einerseits auf die Probe der Verführung des fastenden Jesus durch den Teufel verweisen kann. Andererseits lässt sich diese „gefundene Verführung“ auf die Künstlerin selbst beziehen und ihren Umgang mit Fundmaterial, das den Ausgangspunkt für einen mehrstufigen, transformativen Arbeitsprozess bildet, der sie erst zur Ruhe kommen lässt, wenn aus dem alten Bild ein graduell anderes, neues Bild hervorgegangen ist.

Landschaften als Handlungsfelder
Die Art und Weise in welcher sich formal und inhaltlich die Bild- und Textebene der Werke Deans verschränken, ohne mediale Grenzen klar abtrennen zu können, lässt ihre Auseinandersetzung mit dem Werk des amerikanischen Malers, Zeichners, Bildhauer und Fotografen Cy Twombly erahnen. Twombly führte durch seine seit Mitte der 1950er Jahre entstandenen Graphismen die Kunsttheorie in Definitionsnot: Bildlichkeit und Schriftlichkeit wurden in seinen Arbeiten derart fließend, die Rezeptionsmodi des Sehens und Lesens kamen einander so nahe, dass sie neue Fragen an die Zuständigkeitsbereiche und Methodik bildwissenschaftlicher Forschung auslösten. Die Landschaft bildet in Twomblys Werk wie bei Dean eine Art Ausgangsort, von dem er sich auf die für ihn zentralen Themen Zeit, Geschichte, Vergänglichkeit, Performanz und Literatur mit „linkischer Linie“ (Roland Barthes) zubewegt. Seinen Umgang mit der Farbe Weiß, der sich zum Signature-Style seines Werkes entwickelte, bezeichnete er in seinem einzigen publizierten Text „als die Landschaft meiner Handlungen“ (1) und zog später eine Analogie seiner Bilder zu Buchseiten (2). Landschaft bedeutet bei Twombly häufig den Schauplatz vergangener Handlungen, einen Ort von Geschichte oder literarischer, mythologischer Erzählung. Wie Dean schrieb er Ortsnamen in die Bildfläche ein, rief die Orte und Figuren vergangener Zeiten an, aktiviert dadurch die Assoziationen und Imaginationen der Betrachtenden, ohne eine einzig richtige Lesart nahezulegen.
Wahrnehmung zwischen Bild und Schrift
Diese Gedanken weiterentwickelnd, lässt sich „Quarantania“ als ein Ort, der sich durch eine (für Christen) heilige Schrift konstituiert verstehen. Ein Ort, dessen Bedeutung sich erst performativ herstellte, indem er durch die (fiktiven) Handlungen von Jesus und des Teufels aus einem real existierenden Berg, wie ihn die historische Fotografie abbildete, hervorging. Indem Text und Landschaftsfotografie einander im Druck überlagern, findet Dean zu einer Bildform, die Realität und Fiktion verblendet und dadurch in Zusammenhang bringt. Wie die Wahrnehmung natürlicher Umgebung durch unser Wissen, unseren Glauben, Geschichtsschreibung und andere Narrative unserer Gesellschaft geformt werden, scheint als implizite Frage auf. Wie in einer Filmszene, in der das bewegte Bild und die Sprache als Voiceover oder Untertitel in der Wahrnehmung der Zuschauenden eine neue, intermediale Einheit bilden, schafft „Quarantania“ eine Landschaft zwischen Realität und Fiktion, wie sie Lesenden am inneren Auge vorbeiziehen kann: „acres of mental space“ (3).
(1) Cy Twombly in L’Esperienza Moderna, Nr.2 „Documenti di una nuova figurazione“, Rom 1957, S.32.
(2) History Behind the Thought, Cy Twombly & Nicholas Serota 2007, in: Ausst.-Kat. Tate Modern London 2008, S.52.
(3) Life in Film: Tacita Dean, Frieze Magazine, Issue 126, 01. Okt. 2009
Über die Autorin
Nadine Isabelle Henrich, M.A., ist Doktorandin und Kuratorin mit den Schwerpunkten Fotografie und Medienkunst. Methodisch liegt ihr Interesse in pluralen, räumlichen Bildkonstellationen und hyperimages. Sie studierte Kunstgeschichte und kuratorische Studien in Frankfurt, Rom und Berlin. In der Vergangenheit hat sie zahlreiche Ausstellungen (ko-)kuratiert, z.B. „Cy Twombly Photographs“ in der Galerie Bastian, Berlin/London (2016), „Serial Formations 1967/2017“ Berlin/Frankfurt/Wien (2017-2020) und „Evoking Reality. Konstitution von Wirklichkeit in Fotografie und Videokunst“ für Daimler Contemporary, Stuttgart/Berlin (2018/2019). 2019 wurde sie als Jurorin für die Nominierung des Karl-Hofer-Stipendiums der Universität der Künste berufen. In ihrer von Prof. Peter Geimer an der Freien Universität Berlin betreuten Promotion untersucht sie die fotografische Praxis des amerikanischen Künstlers Cy Twombly.