Das Museum als Campus – Neue Perspektiven auf die Ausstellung
Im Rahmen der aktuellen Ausstellung „Pedro Reyes: Sociatry“ entstand eine Kooperation zwischen der Universität Paderborn und dem Museum Marta Herford. Auf Einladung des Künstlers arbeiten dort seit März 2022 elf Studierende als Moderator*innen gemeinsam mit dem Publikum an einer Heilung der Gesellschaft. In diesem Blogbeitrag berichten sie über ihre Erlebnisse.
Wie der Titel der Ausstellung bereits ankündigt, kann die Kunst für Pedro Reyes eine heilende Wirkung haben: „Sociatry“ leitet sich von den zwei Begriffen socius (Lateinisch für „gemeinschaftlich“ oder „verbunden“) und iatreia (Griechisch für „Heilung“) ab und widmet sich der Behandlung von Krankheiten von miteinander verbundenen Individuen und Gruppen. Ursprünglich geht der Begriff auf den Sozialwissenschaftler Jacob Levy Moreno zurück, der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Methoden zur Heilung der Gesellschaft entwickelte.
Diese Idee greift Pedro Reyes in dem partizipatorischen Projekt „Sanatorium“ auf, mit dem er bei der Kasseler dOCUMENTA (13) 2012 für internationales Aufsehen sorgte. Kunst und Psychologie werden darin verbunden: Wie damals in Kassel können sich auch heute die Besucher*innen im Marta Herford Fragen des Lebens widmen. Begleitet werden sie dabei von Moderator*innen in blauen Kitteln, die in diesem Blog-Beitrag zur Sprache kommen.

Das „Sanatorium“ im Marta Herford
Einer der elf studentischen Moderator*innen, Luca Scholz, beschreibt das Kunstprojekt wie folgt: „Das „Sanatorium“ ist ein Ausstellungsbereich, welcher aus vier interaktiven Stationen besteht. Diese werden vom Künstler auch als Therapien bezeichnet.“ – „Sie sind dennoch nicht gleichzusetzen mit professionellen Therapien“, ergänzt Marietta Mann. „Sie fordern Besucher*innen dazu auf, ihre eigene aktuelle Lebenssituation zu reflektieren. Dabei können sie gemeinsam mit uns Moderator*innen ins Gespräch kommen. Es handelt sich also um ein partizipatives Kunstwerk.“
„So sollen die Teilnehmer*innen bei der Goodoo-Station zum Beispiel an eine Person denken, der sie etwas Gutes tun wollen. Sie suchen sich einige der kleinen Glücksbringer aus, welche die aktuellen Bedürfnisse dieser Person symbolisieren. Anschließend werden die einzelnen Objekte mit geschlossenen Augen gedrückt. Dabei soll die positive Energie der Ausführenden auf die Glücksbringer fließen und die guten Wünsche in Erfüllung gehen“, erläutert Luca Scholz. Die hergestellten und aktivierten Puppen können in der Ausstellung betrachtet werden. Die positive Wirkung – Pedro Reyes spricht sogar von Magie – entfaltet sich aber durch die eigentliche Tätigkeit und das Artikulieren der Gedanken im Gespräch mit den Moderator*innen.

Foto: Hans Schröder
Zwischenmenschliche Begegnungen in der Ausstellung
„Die emotionale Leichtigkeit, die Besuchende nach den einzelnen Stationen ausstrahlen und an mich als Moderatorin weitergeben, stellt bisher den größten Belohnungsfaktor dar“, sagt Lydia Kayß. „Wenn sie sich komplett auf den Prozess einlassen und für unvorhergesehene Erkenntnisse offen sind, entstehen wirklich besondere Momente, die für beide Seiten, Besucher*in und Moderator*in, prägend sein können.“ – „Das gelingt aber nicht immer“, stellt Charlotte Rieke klar, „und ich glaube, es kommt auch darauf an, wie wir den Besuchenden entgegentreten. Wenn ich mich öffne, dann bekomme ich auch etwas zurück und kann kurzfristig Teil eines anderen Lebens werden. Das ist sehr schön.“ – „Mein Lieblingsgespräch war mit einem jungen Mann, der eine Goodoo-Puppe für seine drogenabhängige Mutter machte“, berichtet Nan Makarova. „Er sagte, er könne seine Mutter nicht leiden, und doch hat er so viel Liebe in die Puppe gesteckt. An den Mund der Puppe hat er zum Beispiel eine Feder befestigt, damit seiner Mutter die Worte leichter fallen.“
„An der Goodoo-Station hatte ich ein Erlebnis, das ganz ohne Worte auskam“, erwidert Mariell Storch. „Ein Besucher gab mir, als ich ihn ansprach, durch eine Geste zu verstehen, dass er gehörlos war. Wir konnten uns einigermaßen durch Gestik und Mimik verständigen und er gestaltete eine der interessantesten Goodoo-Puppen, die ich bisher gesehen habe. Sehr gerne hätte ich ihn gefragt, für wen er die Puppe gemacht hatte und was er der Person wünschte. Leider konnte ich mich an den Gebärdensprachkurs, den ich Jahre zuvor absolviert hatte, kaum noch erinnern. Dies führte allerdings dazu, dass ich meine Kenntnisse bereits am selben Tag auffrischte und wieder tiefer in die Thematik eintauche.“
Nan Makarova macht auf einen organisatorischen Umstand aufmerksam, aus dem er schließlich eine neue Idee für die Goodoo-Station entwickelte: „Leider müssen wir, da es nur eine begrenzte Anzahl an Puppen gibt, die Glücksbringer immer wieder von den Puppen abnehmen, um sie für andere Besucher*innen zur Verfügung zu stellen. Das hinterlässt aber bei vielen ein unangenehmes Gefühl, da etwas zerstört wird, das für andere Menschen von großer Bedeutung ist. Deshalb versuche ich ein Ritual zu entwickeln, welches die Puppen verabschiedet und ihre Wünsche konserviert.“ Die Studierenden arbeiten also nicht nur nach Anweisung von Pedro Reyes oder dem Museum, sondern entwickeln – durchaus im Sinne des Künstlers – ganz eigene Ansätze, um ihre Rolle als Moderator*in auszufüllen.

Die Verbindung von Museum und Universität
Vor der Arbeit im Museum stand ein intensiver Schulungsteil an der Universität Paderborn, in dem nicht nur die konkreten Therapien vorbereitet, sondern auch Raumkonzepte (Museum, Campus, Sanatorium), Performativität und Forschungsmethoden erarbeitet wurden. Außerdem sollte der Grundstein für ein produktives Miteinander im Team der Moderator*innen gelegt werden, da sie als Gruppe ebenfalls eine kleine Gesellschaft bilden, die sich gegenseitig unterstützen und entlasten kann.
„Wir wurden zwar in mehreren Workshops für die Arbeit als Moderator*innen ausgebildet, doch auf manche Situationen im Museum kann man sich nicht wirklich vorbereiten“, führt Marietta Mann aus und Charlotte Rieke gibt ein Beispiel: „Die ersten Besucher*innen, mit denen ich gearbeitet habe, waren zwei Frauen aus der Ukraine. Ich habe während der Gespräche Stück für Stück mehr über ihre Situation, und die Gedanken, mit denen sie sich momentan als Kriegsflüchtlinge auseinandersetzen müssen, erfahren. Es ist beeindruckend zu sehen, wie die Emotionen in den Gesprächen ständig mitschwingen und jede Handlung durch die aktuelle Situation geprägt ist.“
Im Vorfeld wurde das Konzept des partizipatorischen Kunstprojektes in Bezug auf traumatische Erfahrungen, psychische Erkrankungen und deren Therapie in der Gruppe durchaus kritisch diskutiert. Wir verständigten uns darauf, alle Handlungen als performatives Kunstwerk zu betrachten – und auch als solches zu markieren: Die Moderator*innen sind also weder Therapeut*innen noch Kunstvermittler*innen, sondern einfach Menschen mit einem Interesse für Kunst und dem daraus resultierenden Austausch mit anderen. Dieser Aspekt ist auch Pedro Reyes wichtig, da er zeigen möchte, dass alle Menschen Heilungsprozesse initiieren können.

„Dadurch, dass wir uns auch außerhalb der Arbeitszeiten in regelmäßig stattfindenden Kolloquien an der Uni treffen, hat sich unsere Gruppe zu einer kleinen Community entwickelt“, meint Lydia Kayß. „In diesen Treffen tauschen wir uns über unsere Erfahrungen aus und erarbeiten neue Möglichkeiten, wie wir die Therapien durchführen können.“ Luca Scholz stimmt ihr zu: „Ich würde sagen, dass wir über die Zeit immer mehr zu einem Team geworden sind, das über Probleme und andere Aspekte im und außerhalb des Museums redet.“ – „Als fest zusammengeschweißte Einheit würde ich uns aber dennoch nicht bezeichnen“, befindet Mariell Storch etwas kritischer. „Die Planung für die SILO-Ausstellung und das damit verbundene gemeinsame Projekt der Baumpflanzung erzeugt meines Erachtens eine stärkere Gruppendynamik und tut insbesondere deswegen gut, weil man so etwas wie eine kollektive Kreativität verspürt und sich stärker einbringen kann.“
Einer der Höhepunkte der Kooperation zwischen Universität und Museum war sicherlich die hier angesprochene Aktion auf Initiative von Pedro Reyes in Paderborn: Wie bereits einige Wochen zuvor im Marta Herford, wurde auch auf dem Campus der Uni zur Eröffnung der Jahresausstellung ein Apfelbaum der Sorte „Jakob Lebel“ gepflanzt. Die Baumpflanzung ist Teil des großangelegten Kunstwerkes „Palas por Pistolas“ (seit 2008), für das Pedro Reyes 1.527 Schusswaffen im Tausch gegen nützliche Alltagsgegenstände einsammelte, die Waffen einschmelzen ließ und zu Schaufeln transformierte, mit denen seither überall auf der Welt Bäume gepflanzt werden. Der Abbau von Waffengewalt – von der Handfeuerwaffe bis hin zur Atomwaffe – ist ein zentrales Anliegen des Künstlers und stellt auch einen wichtigen Aspekt der aktuellen Ausstellung im Marta Herford dar: Zu sehen sind dort unter anderem eine Dokumentation über „Palas por Pistolas“ sowie einige der Schaufeln.

Das Museum als Campus – oder doch als Wohnzimmer?
Die Moderator*innen betonen im Gespräch immer wieder die wichtigen Erkenntnisse, die sie während des Studiums innerhalb der Praxiserfahrungen sammeln: „Uns wird der Blick in Bereiche der Kunst geöffnet, die vielleicht in regulären Seminaren gar nicht so erfahrbar sein können“, reflektiert Sare Kurt. „Ich hätte mir kein besseres Praktikum vorstellen können“, schwärmt Imke Ruhrmann. „Wir sind zusammen mit den Besuchenden Teil des Kunstwerks. Zudem ist es sehr interessant, den Museumsalltag in einer Ausstellung direkt mitzuerleben, Führungen zuzuhören oder etwas über die kuratorische Praxis zu erfahren.“ Auch Nan Makarova betont die Bedeutung für sein Studium: „Ich setze mir im Studium kuratorisch-szenographische Schwerpunkte und das Projekt gibt mir die Möglichkeit, diese einmal in der Praxis zu erleben und darin selbst zu agieren.“
In den Vorgesprächen zum Projekt hieß es immer wieder, dass die Ausstellung im Marta als Campus verstanden wird: Besucher*innen können sich darin bewegen, verschiedene Angebote wahrnehmen, Themen vertiefen oder einfach in einer der Hängematten lesen. Dies führte zu der Idee, dass auch die Studierenden diesen Ort als zweiten Campus begreifen und für eigene (künstlerische) Forschungen im Rahmen ihres universitären Praktikums nutzen.

„Ich möchte mich in meinen Forschungen mit dem Verhalten der Besucher*innen im Marta auseinandersetzen,“ berichtet Lydia Kayß. „Alle Stationen der Ausstellung wirken im Wechselspiel miteinander und führen die Besuchenden durch den Ausstellungsraum. Ich dokumentiere und zeichne ihre Fußspuren in eine Karte des Raumes ein. Mein Ziel ist es, alle Spuren in einem Diagramm oder Bild übereinanderzulegen und meine Zeit als Moderatorin durch die Laufwege der Besuchenden zu festzuhalten, indem ich das Flüchtige visuell darstelle und somit Rückschlüsse auf das Verweilen und Verhalten der Besucher*innen ziehen kann.“ Dieses Beispiel zeigt, dass der Fokus der Moderator*innen auch über ihre konkreten Aufgaben hinausreicht und die kuratorische Praxis, Besucher*innen oder der Museumsraum in den Blick genommen werden. „Außerdem fühlt sich der Ausstellungsraum mittlerweile viel vertrauter an, besonders dann, wenn ich nur in Socken durch die Ausstellung laufe“, bemerkt Mariell Storch und Lydia Kayß bestätigt: „Es ist überraschend, wie schnell man sich an die Umgebung gewöhnt und sich den Ausstellungsraum fast schon aneignet – wie eine Art Wohnzimmer oder Spielfeld.“ – „Es ist seltsam,“ führt Charlotte Rieke den Gedanken fort. „Man wird Teil des Kunstwerks und bekommt einen anderen Zugang zum Museum, vielleicht geht auch die Ehrfurcht und der Glanz ein bisschen verloren. Ich bewege mich natürlicher, fast wie zuhause. Dennoch erschrecke ich mich immer wieder, wenn ich selbst einen Störmoment in der Ausstellung verursache, zum Beispiel wenn mir etwas runterfällt.“
Feldforschung als Erforschung des Selbst
Luca Scholz forscht in Bezug auf „Citileaks“ – eine andere der künstlerischen Stationen von Pedro Reyes, bei der Besucher*innen ein Geheimnis auf einen Zettel schreiben und diesen in eine Flasche stecken. Im Gegenzug erhalten sie eine „Flaschenpost“ von einer unbekannten Person, lesen deren Geheimnis vor und diskutieren ihre Gedanken mit den Moderator*innen. „Ich sammle die Reaktionen der Besucher*innen auf die Geheimnisse und Geständnisse bei „Citileaks“. Bisher habe ich verschiedenste Verhaltensweisen sehen können, natürlich fallen diese immer anders aus. Teilweise kommen auch sehr tiefgründige Gespräche und Diskussionen zustande. Hierbei ist mir aufgefallen, dass sich die Teilnehmenden bei traurigen Geheimnissen bisher sehr emphatisch verhalten haben. Ihre Reaktionen versuche ich in meinen Visualisierungen festzuhalten.“

„Auch ich erforsche eine der interaktiven Therapie-Stationen: das „Philosophical Casino“, berichtet Mariell Storch. „Dort können die Besucher*innen Fragen stellen und anschließend philosophische Zitate als Antworten erwürfeln. Durch meine Forschung möchte ich herausfinden, welche Fragen die Teilnehmenden umtreiben und was sie wirklich in ihrem Leben beschäftigt. Außerdem analysiere ich, ob das Weltgeschehen Einfluss auf die Themen der Besucher*innen einnimmt. Sind es die kleinen Alltagsfragen, auf die sie eine Antwort suchen oder doch die großen Sinnfragen, die sich die Menschheit schon seit jeher stellt? Die Fragen, der Besucher*innen möchte ich künstlerisch aufbereiten und mit Headlines aus den Medien in Zusammenhang bringen. Ergänzen sie sich oder gehen die Gedankenwelten und das Weltgeschehen auseinander?“
Alle Forschungsprojekte sind noch bis zum Ende der Ausstellung am 14. August im Prozess und werden auch danach im universitären Rahmen weitergeführt. Eine Publikation mit dem Arbeitstitel „Learning Journal“, welche die Erfahrungen der Moderator*innen bündelt, ist in Vorbereitung. Diese soll den gesamten Prozess der Studierenden dokumentieren, sowohl über einige wichtige Ereignisse berichten und die Forschungsergebnisse präsentieren als auch immer wieder zur Reflektion einladen, wie Nan Makarova es bereits andeutet: „Ich würde nicht sagen, dass ich das Museum erforsche. Vielleicht erforscht das Museum eher mich! Ich gehe ins Museum, ich verbringe Zeit dort, ich stöbere in den „Citileaks“-Geheimnissen herum und führe Gespräche. Dabei bemerke ich oft, dass ich Kunst scheinbar nicht wirklich verstehe, aber doch ziemlich gut finde. Das wäre wahrscheinlich meine Erkenntnis: Man muss es nicht unbedingt verstehen, es reicht einfach offen dafür zu sein und Spaß daran zu haben.“ Dem stimmt vermutlich auch Pedro Reyes zu, der im Interview mit Friederike Fast herausstellte: „Ein soziales Experiment kann als Forschung dienen und gleichzeitig auch therapeutisch (und unterhaltsam) sein.”
Teammanagerin:
Anna Sophie Weiß
Moderator*innen:
Marietta Sophia Mann, Charlotte Rieke, Mariell Sonja Storch, Luca Tom Scholz, Nan Makarova, Sare Kurt, Lydia Kayß, Imke Ruhrmann, Irina Poel, Edith Lammert
Über den Autor:
Dr. Tim Pickartz ist als Supervisor für die Ausbildung und Betreuung der Moderator*innen für die Ausstellung „Pedro Reyes: Sociatry“ im Museum Marta Herford verantwortlich. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Kunst/Kunstgeschichte und ihre Didaktik an der Universität Paderborn. Die Schwerpunkte seiner Lehre liegen in der Gegenwartskunst, in der kuratorischer Praxis und in Projekten der Kunstvermittlung. Dieser multiperspektivische Ansatz bildet auch die Struktur seiner Promotion unter dem Titel „‚Der Tanz war sehr frenetisch…‘ Kuratorische Praxis, Kunstvermittlung und Vermittlungskunst auf der dOCUMENTA (13)“.
Er arbeitete als Kunstvermittler unter anderem auf der dOCUMENTA (13) und den Skulptur Projekten 2017 sowie als Performer in Asad Razas „Absorption“ für die Ruhrtriennale 2021. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind Oral Histories zu delegierten Performances, die Herstellung und Pflege von temporären Gemeinschaften, Kollektivität sowie das Zusammenleben menschlicher und nicht menschlicher Akteure (im Moment v.a. Bäume) in der Gegenwartskunst.