Digitalcourage: Wie Bielefeld zur Hauptstadt des Datenschutzes wurde und was das mit Kunst zu tun hat
Wo alles anfing? Im Ausstellungsraum unserer Galerie „Art d’Ameublement“ in Bielefeld in der Marktstraße 18. Wir: Rena Tangens und padeluun. Art d’Ameublement: Unser Kunstkonzept frei nach Erik Satie, dem französischen Komponisten.
Erik Satie (1866-1925) hat „Musique d’Ameublement“ komponiert – Musik, die als Hintergrundmusik konzipiert war. Seine Musik sollte nicht mehr Bedeutung haben als die Wärme, das Licht oder die Möbel in einem Raum und sie sollte einen angenehmen Rahmen schaffen, der unaufgeregt und zugleich anregend ist. Wir hatten 1984 in verschiedenen Städten die „Pages Mystiques“ aufgeführt und dafür jeweils den Raum so eingerichtet, dass Menschen darin auch 15 Stunden – so lange dauert eine komplette Aufführung des Klavierstücks – bleiben mögen. Dafür braucht man in der Tat einen angenehmen Raum. Und es funktionierte: Das Publikum wurde zur Hauptperson, Menschen entdeckten auf einmal, dass sie Zeit haben; einige genossen die meditative Stimmung, andere lasen Bücher, nahmen Kontakt auf und führten geistreiche Gespräche.
Das Konzept von Art d’Ameublement übertrugen wir dann auf Technik, Recht und Politik – denn sie alle stellen einen Rahmen da und bestimmen, wie wir miteinander umgehen. Und da gibt es viel zu tun. Wenn Telefontechnik massenhafte Überwachung einfach macht, wenn Cookiebanner uns zermürben wollen, damit wir zustimmen, getrackt zu werden und wenn eine Plattform ihre Algorithmen so wählt, dass sie Streit und Hass fördern, dann beeinflussen sie, wie wir miteinander umgehen. Diese Technikgestaltung ebenso wie Recht ist menschengemacht – und das bedeutet, wir können uns entscheiden, sie zu ändern. Dazu wollen wir Mut machen. Das ist der Antrieb von Digitalcourage: Für eine lebenswerte Welt im digitalen Zeitalter.
Als anno 1985 der Chaos Computer Club drei Tage und Nächte bei Art d’Ameublement gastierte, trafen sich hier die ersten Computerbegeisterten, die zwei Jahre später Digitalcourage gründeten. 1987 starteten wir die Veranstaltungsreihe PUBLIC DOMAIN im Bunker Ulmenwall. Sie wurde für mehr als 30 Jahre der Kristallisationspunkt für kreative Programmierer.innen, kritische Geister, spannende Vorträge und heiße Diskussionen. Und der Ausgangspunkt für viele Projekte: 1989 die BIONIC-MailBox, das erste lokale Kommunikationssystem für E-Mail und News. Die Gestaltung der Zerberus Server-Software, den Aufbau der Bürgernetze Z-Netz, CL in Deutschland und Zamir während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien. Seit 2000 organisiert Digitalcourage den jährlich verliehenen Datenschutz-Negativpreis BigBrotherAwards. Datenkraken bekommen hier, was sie am wenigsten mögen: Öffentlichkeit für ihre Untaten. Ziel ist Aufklärung, Handlungsbedarf zu zeigen und zu erreichen, dass sich tatsächlich etwas ändert. Sie haben eine Vielzahl von wichtigen Themen auf die öffentliche Agenda gebracht. Dieser Preis ist naturgemäß unbeliebt bei Konzernen und Politiker.innen, die Überwachung oder rücksichtslose Digitalisierung voranbringen wollen. Die BigBrotherAwards sind so prominent geworden, dass sie Bielefeld den inoffiziellen Titel „Hauptstadt des Datenschutzes“ eingetragen haben. Digitalcourage ist auf vielen Ebenen aktiv: Advocacy: Wir sprechen mit Politiker.innen, um Gesetzgebung und Politik zu verbessern. Freiheit statt Angst: Wir organisieren Demos und kreative Aktionen. Förderung der Datenschutz- und Netzbewegung: Wir stellen Kongresse, Barcamps und andere Events auf die Beine. Souveräne Infrastruktur: Wir stellen nützliche Dienste zur Verfügung: Zum Beispiel nuudel, das nicht trackende Terminfindungstool, Tor zum unbeobachteten Surfen und die Mastodon-Instanz digitalcourage.social. Digitale Selbstverteidigung: Wir wollen Menschen ermündigen, kompetent mit Technik umzugehen und sich vor Überwachung und Datendiebstahl zu schützen. Dafür veranstalten wir Crypto-Cafés und veröffentlichen eine Bücherreihe „kurz & mündig“. Und schließlich haben wir immer noch Sinn für Kunst: Während der Ausstellung SHIFT sind unsere Satelliten-Graugänse „Wiwiwi – Nang Nang Nang“ im Foyer des MARTa zu sehen und zu hören.
Weitere Infomationen und Termine:
Kommunikationskunstwerk Wiwiwi Nang Nang Nang im MARTa
Digitale Selbstverteidigung mit Digitalcourage, Crypto-Cafe im MARTa:
Mi 30.08.2023 und Sa 14.10.2023
Vortrag Rena Tangens am Sa 23.9.2023 im MARTa: Warum Smart Cities eine dumme Idee sind
Autorin:
Rena Tangens