Isa Genzken – Die Stadt, die Kunst, der Mensch und die Architektur
Der folgende Text ist im Begleitmagazin zur Ausstellung „Glas und Beton“ erschienen, an der dessen Autorin Anne Schloen als Gastkuratorin beteiligt ist. Im Rahmen dieser Ausstellung sind aktuell zwei Werke der hier beschriebenen Künstlerin Isa Genzken im Marta zu sehen.
Architektur dient nicht nur einer Funktion, sondern verdeutlicht auch die Werte und Ideale einer Gesellschaft. Die Auseinandersetzung mit Architektur und ihren Formen, Funktionen und Wirkungen hat sich zu einem bedeutenden Thema in der bildenden Kunst entwickelt. Ein Grund dafür liegt sicherlich in der wachsenden Bedeutung der Stadt. Seit der Jahrtausendwende leben zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Weltweit entwickeln sich viele Städte zu gigantischen Megacities und das mit einer enormen Geschwindigkeit. Dieses gesamtgesellschaftliche Phänomen hat der französische Soziologe und Philosoph Henri Lefebvre als „Verstädterung der Gesellschaft“ bezeichnet. Nicht mehr der ländliche, sondern der hoch urbanisierte Raum ist der Ort, an dem sich das alltägliche Leben abspielt. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass der Mensch in seinem Alltag mehr als je zuvor von urbaner Architektur umgeben ist.
Skulptur als Resonanzkörper
Das Werk der Künstlerin Isa Genzken ist vielfältig und voller stilistischer Brüche. Wiedererkennbarkeit interessiert sie nicht. Ganz im Gegenteil: Immer wieder erfindet sie neue Bildsprachen, um die Gegenwart zu reflektieren. Dennoch gibt es einige Themenstränge, die sich durch ihr gesamtes Œuvre ziehen. Einer davon ist die urbane Architektur. Die moderne Großstadt in ihrer Ambivalenz und Komplexität ist für sie eine unerschöpfliche Inspirationsquelle. Die Formen, Materialien und Oberflächen der urbanen Architektur interessieren sie dabei ebenso wie der visionäre gesellschaftliche Anspruch, der mit der Moderne verbunden war. Kunst als Seismograf der Gesellschaft. In den 1980er Jahren konzipiert Isa Genzken Weltempfänger: Betonquader
mit Antennen, die von der Bereitschaft des Objekts erzählen, jede Bedeutung zu empfangen, die die Welt sendet. Diese Idee von der Skulptur als Resonanzkörper, als Modell des Sendens und Empfangens, begleitet die Künstlerin bis heute. Die Eingangsempfindlichkeit ihrer Weltempfänger ist hoch, die aufgefangenen Signale sind divers: Sie reichen von der pragmatischen Trostlosigkeit der deutschen Nachkriegsarchitektur über die glatte Ästhetik amerikanischer Hochhäuser bis weit zurück in die Kunst- und Kulturgeschichte.
Tristesse in Beton
Mitte der 1980er Jahre beginnt Isa Genzken, die Sprache der Architektur mit der der autonomen Skulptur zu verbinden. Zwischen 1985 und 1991 entsteht eine Serie von abstrakt-unfertigen, raumähnlichen Objekten aus Beton, die auf hohen Stahlrohrgestellen in Augenhöhe präsentiert werden. Sie wirken wie architektonische Fragmente und erinnern an Türen, Fenster oder Nischen. Relativ klein und zugleich dabei monumental. Das scheinbar Unfertige, Fragile und Skizzenhafte der Objekte steht dabei in einem Gegensatz zu den eigentlichen Eigenschaften des Baustoffs Beton: Dauerhaftigkeit, Härte und Schwere. Minimalistische Formensprache und inhaltliche Dichte. In dieser spröden und rau wirkenden Serie verweist Isa Genzken auf die Tristesse der grauen Betonmoderne, die sich in der Nachkriegszeit aus den Visionen des Bauhauses entwickelt hatte. Es geht aber auch um die Verwundbarkeit der Städte, deren zerbombte Zentren nach dem Krieg schnell mit Gebäuden aus Beton aufgefüllt wurden. Modern und robust – in der Nachkriegszeit galt der Baustoff Beton als Versprechen auf Unerschütterlichkeit und Fortschritt, stand für Utopie und Aufbruch. Doch Isa Genzkens Beton-Skulpturen sind brüchig und wirken ruinös. Oftmals ziehen sich Risse durch die Betonwände, häufig weisen die Oberflächen grobe Gebrauchsspuren auf. Der Anspruch der Architektur, für immer in stabiler Unvergänglichkeit zu bestehen, wird damit in Frage gestellt. In diesem Sinne reflektieren Isa Genzkens Betonarbeiten Visionen einer architektonischen Umwelt, deren Ewigkeitsanspruch mit dem ihn symbolisierenden Beton zu zerfallen droht.
Utopie in Glas
In ihrer Auseinandersetzung mit der urbanen Gegenwart wechselt Isa Genzken immer wieder den Ansatz. Sie formuliert präzise Kommentare zur städtischen Realität, entwickelt aber ebenso auch Vorschläge für neue Gebäude. 2001 entsteht die Serie New Buildings for Berlin: Es sind abstrakte Türme, die sich über drei- oder viereckige Grundrisse erheben und aus farbigen, aneinander gelehnten Industrieglasplatten bestehen. Auf schlanken Sockeln präsentiert wirken sie wie Modelle gläserner Hochhäuser, ohne dabei wirklich eindeutig zu sein. Ihnen fehlt das Innenleben, so dass sie im Grund nur leere Hüllen darstellen. Es ist Isa Genzkens Auseinandersetzung mit den gläsernen Fassaden moderner Hochhäuser. Seit dem Beginn der Moderne gilt Transparenz in der Architektur als Qualität. Es sind die Glasutopien des frühen 20. Jahrhunderts, auf die die Künstlerin anspielt: Auf Paul Scheerbart und Bruno Taut, die mit dem durchsichtigen Baustoff die Hoffnung einer durchlässigeren Gesellschaft verbunden haben, aus der Korruption, Filz und Missstände verschwunden sind. Glasarchitektur wurde als „Ideal der sichtbaren Gesellschaft“ verstanden. Zugleich verweisen Isa Genzkens gläserne Türme auch auf die spiegelnden Glasfassaden amerikanischer Wolkenkratzer, die in der Nachkriegszeit zum Markenzeichen der machtvollen Repräsentation großer Unternehmen wurden. Mit ihren „New Buildings for Berlin reagiert die Künstlerin auf die neuere, ihrer Meinung nach verfehlte Architekturtristesse von Berlin und setzt ihr „unmögliche“ Entwürfe für Hochhäuser entgegen, die jedoch niemals verwirklicht werden.
Urbane Transformationen
Isa Genzkens künstlerisches Interesse an städtischen Räumen, ihren Fassaden, den plastischen Qualitäten von Architektur und den architekturnahen Aspekten von Skulptur hat sie zwangsläufig zu den Baustoffen Glas und Beton als prägende Materialien der modernen Architektur geführt. In ihren Beton- und Glas-Arbeiten zeigt Isa Genzken architektonische Situationen in Modellgröße, die in Augenhöhe präsentiert werden und so die Betrachter*innen physisch involvieren. Zudem geht es um Konstruktion und Hülle – ein grundlegendes Thema der Architektur. Die Serie aus Beton verkörpert den nackten, spröde wirkenden Rohbau, während bei den Glasarbeiten der Fokus auf der Fassade, dem äußeren Erscheinungsbild eines Gebäudes, liegt. Trotz ihrer großen Nähe zur Architektur und ihres Modellcharakters sind Isa Genzkens Arbeiten keine Architekturmodelle. Ihre architektonischen Werke sind weder modellhafte Übersetzungen unserer gebauten Umwelt noch Visionen für zukünftige, realisierbare Gebäude, sondern skulpturale Auseinandersetzungen mit unserer urbanen Realität, die sich in und als Architektur manifestiert. Die Sprache und das Vokabular der Architektur werden von Isa Genzken eingesetzt, um einen kritischen Blick auf die Gegenwart zu formulieren.
Kunst über Architektur
Die bildende Kunst ist in den vergangenen Jahren immer architektonischer geworden. Für Künstler*innen ist Architektur unter anderem deshalb so interessant, weil sie unseren Alltag prägt, ihre Formen allgemein bekannt sind und sie für jeden von uns eine konkrete Bedeutung hat. Das Vokabular der Architektur dient den Künstler*innen dazu, den künstlerischen Diskurs in die Realzusammenhänge unserer Wirklichkeit einzubinden. Oftmals kommt noch eine weitere inhaltliche Ebene hinzu, wenn Künstler*innen Architektur als Reflexionsmedium für größere gesellschaftliche und politische Zusammenhänge verstehen. Diese architektonischen Arbeiten lassen sich dann als Metaphern, als Kommentare zur Welt lesen, in denen der gesellschaftliche Status quo, Werte und Konventionen kritisch hinterfragt werden.
Über die Autorin:
Dr. Anne Schloen ist freie Kuratorin und Autorin. Sie studierte in Paris, Marburg/Lahn, London und Köln, wo sie über „Die Renaissance des Goldes in der Kunst des 20. Jahrhunderts“ promovierte. Von 2013 – 2015 lehrte sie als Gastprofessorin an der Kunstakademie Münster. 2014 – 2015 betreute sie als Gastkuratorin am Marta Herford bereits die von ihr initiierte Ausstellung „(un)möglich. Künstler als Architekten“ und ist an der aktuellen Ausstellung „Glas und Beton – Manifestationen des Unmöglichen“ beteiligt. Seit 2016 arbeitet sie für das Architekturbüro O&O Baukunst Köln. Aktuell hat sie einen Lehrauftrag an der Münster School of Architecture und der Kunsthochschule Mainz. 2021 erscheint im Verlag Walther König ihr Buch über „Der Künstler als Architekt“.