Nackt im Museum: Eine Erbsenerzählung
In ihrer Auftaktausstellung „Perspektiven einer Sammlung – Inventur und Vision“ legt die Direktorin Kathleen Rahn ein besonderes Augenmerk auf das Ungleichgewicht zwischen Künstlern und Künstler*innen in der Sammlung Marta. Diese wird in den Gehry-Galerien zwar nur auszugsweise gezeigt, die neue Sammlungspräsentation soll jedoch, so Kathleen Rahn, „als exemplarische Analyse dazu dienen, das Haus für eine diverse Zukunft zu sensibilisieren.“ Bereits 2015 stellte sich die Monopol Chefredakteurin Elke Buhr anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Museums Marta Herford die Frage, wie es wohl mit der Geschlechterdiversität in der Institution mit dem „gemütlichen Frauennamen“ aussieht.
Seitdem das New Yorker Museum of Modern Art im Jahr 2004 seinen Erweiterungsbau eröffnet hat, ist der Kunstkritiker Jerry Saltz einmal jährlich durch die ständige Sammlung gegangen und hat die Werke von Frauen gezählt. Saltz fand unter den 415 Werken in der vierten und fünften Etage dieses Tempels der westlichen Moderne weniger als 20 von Frauen – unter fünf Prozent. Beim letzten Rundgang, den er 2013 unternahm, waren unter 367 Werken 29 mit weiblicher Autorschaft, knapp 8 Prozent. „Ein wenig weniger schrecklich. Immer noch unverzeihlich“, kommentierte Saltz.
Seit Jahrzehnten wird die Diskussion um die verzerrte Gender-Perspektive in der Kunst geführt, in regelmäßigen Abständen flammt sie wieder auf. Vielleicht, weil das Problem einfach nicht gelöst wird. „Müssen Frauen nackt sein, um in das Metropolitan Museum zu kommen?“, fragten die Guerilla Girls im Jahr 1989 – und nahmen dabei keineswegs eine Pussy Riot-Aktion vorweg. Die Künstlerinnengruppe hatte vielmehr festgestellt, dass weniger als fünf Prozent der Werke der Kunst der Moderne dort von Frauen stammten, dafür aber 85 Prozent der abgebildeten Nackten weiblich waren.
Dass die Geschichte der Moderne in den großen Museen damals wie heute anhand von Werken von Männern erzählt wird, kann man den Museumskurator*innen allerdings nicht wirklich vorwerfen: Die historischen Bedingungen haben Künstlerinnen extrem benachteiligt, sie hatten kaum Zugang zu Akademien, wurden von Netzwerken isoliert und vom Markt nicht beachtet, kaum eine konnte sich in dieser Männerwelt durchsetzen. Kunsthistoriker*innen und Kurator*innen haben trotzdem in den letzten Jahren versucht, die weibliche Seite der Kunstgeschichte nachzureichen. Regelmäßig werden vergessene oder vernachlässigte Künstlerinnen der großen Erzählung von der Entwicklung der Kunst hinzu gestellt. Lotte Laserstein, Hilma af Klint, Florine Stettheimer – es gibt immer neue Ausnahmen im männlichen Mainstream.
Frappierender als die männliche Dominanz in der Kunstgeschichte ist jedoch das Ausmaß, in dem sich diese Vorherrschaft in der zeitgenössischen Kunst fortsetzt. Der weibliche Nachwuchs wäre durchaus vorhanden: An den meisten Kunsthochschulen sind Studentinnen mittlerweile in der Überzahl (an der Kunstakademie Düsseldorf beispielsweise waren bereits 2007 55,8 Prozent der Studierenden Frauen, bei einem Frauenanteil in der Professorenschaft von bescheidenen 14,3 Prozent). Doch schon beim ersten Karriereschritt, dem Finden einer Galerie, tun sich Frauen schwerer. Nach einer Studie des Berliner Instituts für Strategieentwicklung von 2013 sind drei Viertel aller in deutschen Galerien ausgestellten Künstler*innen männlich. Selbst bei der Documenta 13 von Carolyn Christov-Bakargiev, die als eine Großausstellung mit großem Frauenanteil galt, lag der Anteil der ausstellenden Künstlerinnen unter einem Drittel. Dabei geht es auch anders: Ein Haus wie das Moderna Museet in Stockholm strebt bei seiner Präsentation zeitgenössischer Kunst bewusst eine Quote von 50:50 an. Es repräsentiert damit allerdings eher ein Ideal als den wirklichen Zustand des heutigen Kunstsystems.
Vor allem der Kunstmarkt ist weit von Geschlechtergleichheit entfernt. Je mehr Geld im Spiel ist, desto höher steigt der Testosteronfaktor. Die jüngsten Auktionsrekorde für zeitgenössische Kunst werden ausnahmslos von Männern eingespielt. Jeff Koons, Jean-Michel Basquiat und Christopher Wool waren nach den Zahlen von Artprice von Sommer 2013 bis Sommer 2014 allein für 22 Prozent des Auktionsumsatzes mit zeitgenössischer Kunst weltweit verantwortlich. Alle drei werden von dem mächtigsten Händler der Welt vertreten, Larry Gagosian.
Das teuerste Kunstwerk einer Frau, das bis Ende 2014 verkauft wurde, kostete 35,5 Millionen Euro: So viel brachte Georgia O’Keefes Gemälde „Jimson Weed/White Flower No. 1“ von 1932 bei einer Auktion von Sotheby’s ein. Das Bacon-Triptychon „Drei Studien von Lucian Freud“, zurzeit das teuerste je versteigerte Werk, kostete dagegen fast dreimal so viel: 106 Millionen Euro. Und selbst die zweifelhafte Ehre, als Nachwuchskünstler*in zum Spekulationsobjekt zu werden, teilt der Kunstmarkt zurzeit nur den Männern zu. Unter den zehn auf den Auktionsmärkten erfolgreichsten Künstlern unter 30 fand sich nach den Artprice-Erhebungen 2013/ 2014 keine einzige Frau.
Und das Marta Herford? Macht es seinem gemütlichen Frauennamen Ehre und nutzt, als relativ spät gegründete Institution, die einmalige Chance, von Anfang an ein Ungleichgewicht in der Sammlung zu verhindern und Werke von Frauen und Männern gleichermaßen auszustellen? Nutzt es die Tatsache, dass Kunst von Frauen auf dem Markt immer noch unterbewertet ist, für clevere Ankäufe? Weht in seinen weichen, von Frank Gehry entworfenen Rundungen ein weiblicher Geist?
Mit seinem interdisziplinären Fokus auf Kunst, Design und Architektur wäre das Marta Herford vielleicht sogar prädestiniert dafür, anderen Strängen der Kunstgeschichte als der üblichen, männlich dominierten Heldengeschichte Raum zu geben. Denn gerade dort, wo die Kunst in Kunsthandwerk und Design übergeht, konnten besonders viele herausragende Frauen reüssieren, von Sonja Delaunay mit ihren Modeentwürfen bis zu den russischen Avantgardistinnen Alexandra Exter mit ihren Bühnenbildern oder Ljubow Popowa mit ihren rasant abstrakten Stoffmustern. Vielleicht gilt Ähnliches ja für die zeitgenössische Szene, der das innovative Marta sich widmet?
Befragen wir die nackten Zahlen: Von 29 Einzelausstellungen in der Geschichte des Museums wurden sieben von Frauen bestritten, knapp unter ein Viertel. Die Tendenz zeigt sanft nach oben: Während Gründungsdirektor Jan Hoet nur drei Einzelausstellungen von Frauen ausrichtete, ließ sein Nachfolger Roland Nachtigäller vier Frauen und zehn Männer das Haus beziehungsweise Teile davon bespielen, das geht auf ein Drittel zu. Besser als das MoMa, aber Gleichberechtigung? Noch nicht.
Und die Sammlung? Hier sind nach der jüngsten Zählung des Museums 28 Frauen und 93 Männer vertreten, was bedeutet: Künstlerinnen machen gut 23 Prozent aus. Die Frage ist allerdings auch, welche Werke gezeigt werden. Bei der ersten Sammlungspräsentation, die Jan Hoet 2005 einrichtete, waren unter den 51 Teilnehmenden nur acht Künstlerinnen vertreten, 15 Prozent.
„Sammeln mit Herz und Augen“ hieß der kurze, programmatische Text, den Jan Hoet dieser Sammlungspräsentation vorstellte. Er bekennt sich darin zu einem Sammeln, das sich nicht auf das Hörensagen, nicht auf den Marktpreis und nicht auf den Diskurs verlässt. Sein Kriterium ist das Auge und vielleicht sogar der Instinkt. „Eine Sammlung, und besonders auch die Sammlung des Marta Herford erzählt vom Leben, von unseren Widerständen und Leidenschaften, unseren Visionen und Verlusten“, schreibt er.
Das Subjektive war also Programm bei der Sammlungspolitik – was völlig legitimer Ansatz ist. Man sollte sich allerdings bewusst sein, dass das Auge und das Herz eines Museumsdirektors von seiner ganz speziellen Perspektive auf das Leben beeinflusst werden, die auch ihre blinden Flecken aufweist. Wovon diese Perspektive unter anderem geprägt wurde, kann man vielleicht auf den Künstlerporträts von Benjamin Katz sehen, die ebenfalls Teil der Sammlung sind und 2009 in der Ausstellung „Hellwach Gegenwärtig – Ausblicke auf die Sammlung Marta“ zu sehen waren. Porträtiert werden die Großen der Kunst der achtziger Jahre: Lawrence Weiner, Jannis Kounellis, Harald Szeemann, Gerhard Richter, John Baldessari, Jörg Immendorf, Mike Kelley, Anselm Kiefer, Sigmar Polke. Es gibt auch ein Foto von Joseph Beuys und Jan Hoet selbst. Die einzige Frau unter 19 Männern: Marisa Merz, Künstlerin, aber auch Witwe eines weiteren berühmten Künstlers.
Es sind Porträts einer Generation, die mit vielen Konventionen brach, die aber die Zwangsjacke der Geschlechterrollen nicht viel besser in den Blick zu bekommen schien als ihre Vorgänger zu Beginn der Moderne. Anders als kürzlich Georg Baselitz, hätte Jan Hoet bestimmt nicht behauptet, dass Frauen nicht malen können oder ähnlichen Blödsinn. Aber eine bewusste Geschlechterpolitik beim Aufbau seines Museums, die der männlichen Dominanz entgegenwirkt, war offensichtlich auch nicht seine Priorität.
So ist also auch das junge Marta ein Wesen mit vielen Vätern und wenigen Müttern. Dem heutigen Museumsteam bleibt die Aufgabe, weiter zu lavieren zwischen den Wertzuschreibungen, die die Tradition, der Markt und andere Teile des Kunstsystems vorgeben, und Geschlechtergerechtigkeit.
Es ist dafür geschlechtermäßig ähnlich ausgestattet wie die meisten Museen in Deutschland. Im kuratorischen Team: drei Frauen, ein Mann. Geschäftsführung: weiblich. Technik: Drei Männer. Bildung und Vermittlung: Fünf Frauen. Es geht weiter, wie man es erwartet: Den Mantel an der Garderobe nimmt höchstwahrscheinlich eine Frau entgegen, den Ausstellungsaufbau besorgt ein Mann. Insgesamt haben Frauen eine leichte Mehrheit im Mitarbeiterstab: gut 58 Prozent. Ihr Chef ist männlich.
Quoten sind anstrengend, sie machen die, die sie verfechten, zu Erbsenzähler*innen, was nicht gut passt zum Anspruch eines künstlerischen Hauses. Schubladen klemmen gern, das biologische Geschlecht ist keine Haltung, Weiblichkeit und Männlichkeit sind nicht an Chromosomen gebunden. Im Marta Herford, wo auch EVA & ADELE einmal als beflügeltes Damendoppel mit unklarer beziehungsweise irrelevanter Chromosomenausstattung zur Retrospektive einschwebten, weiß man das genau.
Was bedeuten Zahlen? An sich nicht viel. Aber sie sind da. Und es ist keine schlechte Idee, sie von Zeit zu Zeit genau anzuschauen. Sonst kommen irgendwann die Guerilla Girls vorbei und legen Finger auf Wunden, die längst geschlossen sein müssten.
Über die Autorin:
Elke Buhr, 1971 in Bochum geboren, ist Chefredakteurin von Monopol, dem Magazin für Kunst und Leben, in Berlin. Sie hat Germanistik, Geschichte und Journalistik in Bochum, Bologna und Dortmund studiert und beim Westdeutschen Rundfunk in Köln volontiert. Als Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Rundschau verantwortete sie das Kunstressort und beschäftigte sich mit allen Aspekten der zeitgenössischen Popkultur. Darüber hinaus veröffentlichte sie Texte in DIE ZEIT, Texte zur Kunst, Art oder Modern Painters und schrieb teilweise preisgekrönte Radioessays und Features für den WDR, den BR, den SWR und den HR. Seit 2008 gehört sie der Monopol Redaktion an, zunächst als stellvertretende Chefredakteurin. Seit Mai 2016 verantwortet sie die Kunstzeitschrift als Chefredakteurin. Sie hat drei Kinder und lebt in Berlin.