Rebellische Pracht – Wege aus der Modernität?
Im Umfeld von Marta Herford ist der Architekturexperte Klaus Leuschel kein völlig Unbekannter, haben wir doch bereits für drei Ausstellungen mit ihm zusammengearbeitet. Umso mehr freute es uns, als wir bei der Vorbereitung zu unserer aktuellen Ausstellung auf einen seiner bestehenden Texte stießen, den wir hier als redigierte Version erneut präsentieren.
Die ursprüngliche Fassung erschien 1982 anlässlich der von Rainer Krause organisierten Ausstellung des Deutschen Werkbunds „Provokationen – Design aus Italien: Ein Mythos geht neue Wege“. Wenn wir den Text im Rahmen der Ausstellung „Rebellische Pracht“ wieder aufgreifen, dann weil er auch heute noch als Zeitdokument den Geist jenes postmodernen Designs anschaulich werden lässt.
Gelebte Erinnerungen
Als Schüler in Hannover begab ich mich häufig auf einen Umweg, um am Friedrichswall beim Einrichtungshaus Loeser meine Nase gegen die trennende Glasscheibe zu einer Traumwelt zu pressen. Staunend und neugierig betrachtete ich einen schier unerschöpflichen Formenreichtum oft italienischer Herkunft. Die Objekte erweckten eine Spieleslust; ließen vermittels ihrer intensiven Wirkung ein Bedürfnis gewahr werden.
Verführerische Vielfalt
Heute fasziniert mich noch immer diese Vielfalt der Fantasien, wie sie etwa in den 1001 Abwandlungen zum Thema Sitzen zum Ausdruck kommt. Man mag einwenden, dass all diese verschwenderische Pracht nur zur Befriedigung der Wohlstandssehnsüchte existiert. Auf der Bühne des Konsums gebärdet sich dieses Schauspiel der Objekte wie ein Verführungsmarkt für Verbrauchte und Verbraucher*innen. Und doch ist diese Welt des Designs nichts als die Fabrik trivialer Wünsche und Träume.
Rebellische Pracht statt nüchterner Askese
Ich erinnere mich auch an andere Dinge, die zu jener Zeit in den Schaufenstern zu sehen waren: Objekte, die vorgaben, nicht vorhanden zu sein. Diese Dinge schienen nicht auf dem Boden zu stehen oder an der Wand zu hängen. In ihnen gab es keinen Unterschied zwischen Notwendigem und Überflüssigem. Die Regale und Schränke waren so weiß wie der Kalk der hinter ihnen lauernden Wand. Stühle und Tische leugneten Masse geschickt, dank stahlröhrender Transparenz. Die Identität derartiger Räume verlangte geradezu drohend nach Askese und Penibilität. Eine andere Lebensform erscheint mir auch heute noch im Rahmen dieser funktionierenden Objektwelt schwer vorstellbar, undenkbar.
„Less is more“ (Ludwig Mies van der Rohe) oder „Less is a bore“ (Robert Venturi)
Hatte sich gerade das Bauhaus-Ideal zum Internationalen Stil durchgesetzt, so setzten die italienischen Designer*innen in der Nachkriegszeit an, die Idee der asketischen Enthaltsamkeit des „Weniger ist mehr“ abzuwandeln in eine Cinecittà farbigster Formen (frei nach dem Motto: „Weniger ist langweilig“). Dem Intellektuellen-Ritual einer nicht modischen Askese innerhalb der Wohnung, wie sie zur gleichen Zeit in Ulm weiterentwickelt wurde (vom Schwarzweiß und den Elementarfarben hin zum feurigen Mausgrau), hielten die Italiener*innen immer mehr eine sich alljährlich regenerierende Frische stets neuer Kreationen entgegen.
Produktion in Manufakturen und Kleinstbetrieben
Hätte Italien nicht seine Brianza, diesen als „Garten der Lombardei“ benannten Landstrich zwischen Mailand und Como, wäre jene Entwicklung wohl kaum möglich gewesen. Überspitzt nannte ein italienischer Manager diese Gegend einmal „unser Eldorado”. Sicher, es handelte sich bei den Kleinbetrieben nicht um die Claims von Goldsuchern, aber immerhin waren die dort ansässigen Möbelfabriken die Hühner, die die goldenen Eier der italienischen Wirtschaft legten. Dort produzierten, mangels moderner Maschinenparks, wie es heißt, Kleinbetriebe jene Möbel, die eben nur aus Italien kommen konnten. Auf der Suche nach diesen, zumeist in patriarchalischer Tradition geführten Betrieben, in denen scheinbar nach der Devise gearbeitet wurde, dass Unmögliches schließlich sofort hergestellt werden konnte, sollte man nicht nach meterhohen Leuchtreklamen Ausschau halten. Ich erinnere mich noch mit ungläubigem Erstarren an den Anblick einer der vornehmsten Firmen, deren Fassade an die Unscheinbarkeit deutscher Holzhandlungen anschloss. Dort, in der schon kaum noch zufälligen Nähe zu Como, dem Mekka der Modetextilien, vollbrachten die meisten Firmen des italienischen Designs ihren Drahtseilakt zwischen Kitsch und Kunst. Und nicht von ungefähr war es der besondere Stolz der einzelnen Unternehmen, jeweils andere Nähte bei den Sofamodellen aufzuweisen als die Wettbewerber. Ein Übriges zur Publizität der Produkte leistete ein kleiner, aber effektiver Verbund von Zeitschriften, Messen, Ausstellungen und Preisen.
Alles erlaubt?
Das italienische Design stellte jenem verbindenden funktionalistischen Rahmen, der ein kanonisches Element am Bauhaus war, ein scheinbares Wirrwarr des „Alles ist erlaubt“ gegenüber. Kann man dann aber noch von einem einheitlichen italienischen Design sprechen? Gibt es etwas, was sich als roter Faden durch die Geschichte italienischer Gestaltung zieht? Sonst wäre der Begriff ein Widerspruch in sich. Wahrscheinlich aber ist es das kubische deutsche Herz, das nur irritiert auf der räumlichen Diagonale schlägt; das nicht ruhig zu leben vermag mit diesem Spannungsverhältnis zwischen Rationalität (Intellekt) und Irrationalem (Gefühl, Unterbewusstes).
Klassiker oder Irrtum?
So verweigerte sich das Design der 80er Jahre in Italien, um seiner selbst willen, feinfühlig den Strukturen und Verfahren der Wissenschaften. Es blieb somit offen und zeigte keine Resultate im Sinne von sogenannten Endlösungen. Was allenfalls ausgemacht werden konnte, war eine zufällig entstandene Eigentümlichkeit, eine Tradition. Sie hat eine Kontinuität begründet, deren facettenreiche Dissonanzen vorläufig und unverbindlich zwischen Duchamp und Bauhaus, zwischen Picasso und Ulm angesiedelt werden konnten. Unter der Eisdecke dieser Kontinuität schimmert – gerade heute wieder, da die Entwürfe dieser Designergeneration auf Auktionen sehr gefragt sind – hier und da das Wort „Klassiker“ verführerisch hervor, ohne dass der Anspruch je formuliert wurde, in den Rang des Mustergültigen erhoben zu werden. Der Forderung, über die Zeit hinaus Gültigkeit zu behalten, grundlegend und überragend zu sein, wird in der aufdringlichen Nähe der Gegenwart fast alles und nichts gerecht. Überlassen wir jedoch die unentschuldbaren Kategorisierungen besser den Leichengräbern der Kunstgeschichte und bestaunen wir das Design, solange es noch existiert. Dabei sollte der Mut zu einem „klassischen“ Irrtum unser vornehmstes Privileg sein.
Schlussbemerkung
Rund 37 Jahre nachdem der Text erstmals erschienen ist, ergeht es mir als Autor des Texts fast so wie Krapp, dem „erfolglosen Schreiberling“ in Samuel Becketts Theaterstück „Das letzte Band“. Der darin mit krächzender Geisterstimme über sich selbst spottet: „Kaum zu glauben, dass ich je so blöd war.“ Vielleicht bin ich ja nur nicht lernfähig und selbstkritisch genug, um Ähnliches zu er- und zu bekennen? Dabei will ich gar nicht verschleiern, dass mein Text von einem Optimismus und Zukunftsvertrauen zeugt, was mir heute fehlt. Obwohl: Jene Radikalität, die Bauhaus und Hochschule für Gestaltung Ulm auf der einen Seite und die Architettura radicale (Archizoom, Superstudio, etc.), Studio Alchimia, Memphis und die „Anthologie Quartett“ auf der anderen Seite für sich in Anspruch nehmen durften, erscheint mir heute als kleinster gemeinsamer Nenner. Zudem wäre sie wohl – als Triebfeder – stets wünschenswert. Heute mehr denn je! Vielleicht jedoch artikuliert sie sich längst? Nur eben andernorts, etwa bei Greta Thunberg.