Krise ist Veränderung – Ein Rück- und Ausblick zum Jahresbeginn
Ein Jahresrückblick mitten im Lockdown aus einem geschlossenen Museum heraus – was soll das werden? Das große Klagen sicher nicht, dafür bin ich zu vorwärtsgewandt. Aber das wohlfeile „In jeder Krise liegt eine Chance“ verkleistert auch nur das konzeptionelle Weiterdenken. Vielleicht verschärft die Corona-Krise letztlich die zentralen Fragen der letzten Jahre: Welche gesellschaftliche Funktion hat das Museum, welche soll es haben? Wie wollen wir diese jahrhundertealte Institution weiterentwickeln? Und sollte man immer nach Erwartungen fragen oder eher Statements setzen?
Es war ein ambitioniertes Motto, mit dem wir in das Jahr gestartet sind: „Das neue Marta 2020“. Am Ende war vieles tatsächlich völlig neu, nur leider ganz anders als erwartet. Ungeachtet zahlloser apokalyptischer Science-Fiction-Bücher und -Filme, in denen aggressive Viren die Menschheit bedrohen, konnte und wollte sich niemand vorstellen, dass im 21. Jahrhundert ein solches Szenario Realität werden würde – geschweige denn, dass wir darauf vorbereitet waren. Und während in China das Corona-Virus bereits um sich griff, begann das Marta-Jahr noch mit einem lebensprallen Knaller: Ende Januar zelebrierte der Schauspieler Lars Eidinger gemeinsam mit DJane Bonnie für das Rahmenprogramm unserer Ausstellung „Im Licht der Nacht“ seine Autistic Disco bis in die frühen Morgenstunden. Diversität einmal jenseits von Ethnie und sozialer/ geografischer Herkunft: In dieser Nacht mischten sich die Generationen, Museumsfreunde und Nichtbesuchende, lokale und internationale Gäste quer durch das gesellschaftliche Spektrum.
Begeistert in den Neustart
Und damit ging es hoch motiviert in ein Jahr der großen Veränderungen: Die Vorbesichtigung der Soloausstellung des iranisch-niederländischen Künstlers Navid Nuur war bereits Teil der Eidinger-Nacht und wurde zu ungewöhnlicher Zeit am folgenden Sonntagnachmittag mit Künstlerbewirtung und „Pizza-Döner“ für alle fortgesetzt. Mit „Hocus Focus“ präsentierte Nuur seinen leidenschaftlichen Beitrag zu mehr Partizipation und kreativer Fantasie im Museum. Für die facettenreiche große Themenausstellung „Glas und Beton“ wiederum standen die Eröffnungsredner gutgelaunt im Bausand der gerade eröffneten „Insel im Marta“, während die Schau selbst ohne „feierlichen Vorlauf“ direkt und im gemeinsamen Gespräch zu entdecken war.
Wirkungen und Auswirkungen
Vor allem aber startete mit diesem Frühjahr ein Publikumsdialog, der vor zwei Jahren mit der ursprünglichen Idee zur Entwicklung eines „Qualitätssicherungskonzepts“ seinen Anfang nahm: Wie können wir sicherstellen, dass das hohe Niveau unserer Arbeit nicht nur erhalten, sondern auch nach außen sicht- und erfahrbar bleibt, ohne lediglich auf Verkaufs- und Besuchszahlen blicken zu müssen. Woran wollen sich das Marta und sein Team tatsächlich messen lassen, was könnten andere, passendere Maßstäbe für gutes, ja, auch erfolgreiches Arbeiten sein? So starteten wir Anfang des Jahres einen internen Diskussionsprozess mit externer Moderation. Er mündete schließlich in der erstmals expliziten Formulierung dessen, was mit der jeweiligen Arbeit – also einer Ausstellung, einem pädagogischen Angebot, der öffentlichen Kommunikation etc. – eigentlich erreicht werden soll. Es waren weniger klassische Zielformulierungen als in erster Linie die bewusste Auseinandersetzung einzelner (Abteilungen) mit der Stoßrichtung, den erhofften Wirkungen und möglichen Feedback-Schleifen in Bezug auf die jeweiligen Aktivitäten.
Was intern als äußerst inspirierender, motivierender und weiterhin andauernder Prozess begann, manifestierte sich für die Besuchenden als spielerisches, interaktives Element auf dem Weg in die oder aus der Ausstellung. Auch wenn die ganze Vielfalt der möglichen Instrumente, Dialogformate und Spaß machenden Rückmeldungen noch gar nicht ausgeschöpft wurde, so war von Anfang an eines offensichtlich: Die Besuchenden fühlen sich nicht nur ernst genommen und geben mit einem zuvor ausgegebenen Kärtchen, Klebepunkt oder Jeton gerne Auskunft über Erwartungen, Wünsche und Wirkungen. Sie sind bisweilen auch sehr differenziert dazu bereit, konstruktive Rückmeldung zu geben, sobald man vom klassischen Fragebogen ablässt und Beteiligung auf eher unerwartete Weise ermöglicht. Mehr Details wird es 2021 noch in weiteren Blogbeiträgen geben!
Und dann war alles anders…
Der traditionelle Marta-Neujahrsempfang konnte sich im Aufbruchsschwung noch in gänzlich neuem Gewand präsentieren, auch die mit viel Innovationslust weiterentwickelte Strategie zur Publikumsbindung (die neue Jahreskarte, verlängerte Öffnungszeit zu Marta22, freier bzw. symbolisch bepreister Eintritt für Menschen in Ausbildung bis 27 Jahre usw.) lief noch kurz an, aber dann kam das bis dahin nicht für möglich Geglaubte: Mitte März mussten bundesweit alle Museen aus Infektionsschutzgründen schließen. In die Zeit dieses Dornröschenschlafes fiel schließlich auch der 15. Marta-Geburtstag im Mai, an dem ich unserem Haus allein und dennoch voller Zukunftshoffnung zuprosten konnte. Dafür veröffentlichten wir für die nötige Frischluftaktivität jedes Einzelnen einen ganz unkompliziert mit dem Smartphone abrufbaren Audio-Guide zu unseren zahlreichen Außenskulpturen – mit großer Begeisterung verfasst von verschiedenen Mitarbeiterinnen im Marta und von mir persönlich eingesprochen.
Als wir dann Ende Mai endlich wieder die Türen öffnen konnten, war nicht nur die Welt draußen eine andere geworden, auch das Museum innen hatte sich verändert: Obwohl wir mit vielen guten Verhandlungen beide Ausstellungen deutlich verlängern konnten, um sie über den Sommer hinweg noch zu präsentieren, war das Ausstellungserlebnis plötzlich ein radikal anderes: Es galt die Maskenpflicht für alle, es waren Mindestabstände einzuhalten, maximale Personenzahlen zu gewährleisten und jegliche Art von physischer Partizipation mit Gemeinschaftsaktivitäten oder Berührungen waren unmöglich.
Don’t touch: Fröhliches Pfadfinden
Das traf vor allem die gerade erst mit vielen Hoffnungen und großem Innovationsgeist gestartete „Insel im Marta“, für die der belgische Künstler Adrien Tirtiaux ein Setting geschaffen hatte, das diesen interaktiven, informativen und zum gemeinsamen Verweilen einladenden Raum mitten in den Ausstellungsrundgang integrierte. Es ist sicherlich eine der schmerzhaftesten und bedrückendsten Auswirkungen der Corona-Pandemie in unseren Ausstellungen, dass wir gezwungenermaßen auf ein Museumserlebnis zurückfallen, das fast an die 1970er-Jahre erinnert: Nichts darf angefasst werden, es gibt keine Vermittlungsveranstaltungen, Gruppenführungen und Mitmachangebote sind nahezu unmöglich und jegliche Initiative zur Rettung der museumspädagogischen Mindeststandards ist von großen organisatorischen und hygienetechnischen Maßnahmen begleitet. Da hilft auch die vielbeschworene Digitalisierung nicht viel weiter…
Dafür erwartete unsere Besuchenden, die mit zum Teil rührender Begeisterung, mit viel Redelust und Kunsthunger, aber auch noch in deutlich geringerer Zahl zurückkamen, ein Wege- und Hygienekonzept in der Marta-Lobby, das vielen spontan ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Der gesamte Fußboden im Eingangsbereich hatte sich in ein riesiges Pfadfinderspiel im Mensch-ärgere-dich-nicht-Stil verwandelt, eine Wegeführung so informativ wie bunt, so hilfreich wie augenzwinkernd leicht overdone – ein klares Statement für die notwendigen Schutzmaßnahmen und die Kreativität zugleich.
Von der Kraft der Kunst
Unter diesen Bedingungen konnten wir dann sogar mit großem organisatorischem Vorlauf eine neue Ausstellungseröffnung mit Preisverleihung realisieren: Brigitte Waldach erhielt den Marta-Preis der Wemhöner Stiftung und installierte ihre riesigen Grafitzeichnungen und eine betörende Rauminstallation zwischen roten, silbernen und spiegelnden Wänden unter dem Titel „Schimmer und Glanz“. Aktuell noch geschlossen wird diese Schau auch nach dem zweiten Lockdown im Marta zu sehen sein und beweisen, wie erhebend und ermutigend klug und ästhetisch wirkungsvoll, präzise und sinnlich präsentierte Kunst sein kann.
Mit dem letzten umfangreichen Ausstellungsprojekt „Trügerische Bilder“ in den Gehry-Galerien waren wir dann schon weniger begünstigt unterwegs: Eingeleitet von einem sogenannten Soft Opening Ende Oktober startete diese bildgewaltige und faszinierende Zusammenstellung von malerischen und fotografischen Werken zwischen Illusion und Materialität zwei Tage vor der erneuten Schließung der Museen. Sie geriet mit einem hochgradig disziplinierten, interessierten und äußerst zahlreichen Publikum damit auch zum Signal für die Wirkungskraft der Kultur – bis zur hoffentlich baldigen Wiedereröffnung in diesem Frühjahr.
Vom Zusammenrücken und Auseinandernehmen
In der Zwischenzeit kann man sich noch einmal das großartige Digital Meeting der internationalen Kurator*innenvereinigung IKT anschauen, das der Vorstand gemeinsam mit dem Marta im Herbst als Ersatz für den ausgefallenen physischen Kongress auf die Beine gestellt hatte. Unter dem Thema „Sustainable Curating in Corona Times“ kamen namhafte Akteure (u.a. ein Mitglied des Leitungsteams der „documenta fifteen“) online zusammen, um sich weltweit über Nachhaltigkeit und die Folgen der Pandemie für die zeitgenössische Kunst auszutauschen. Denn nicht zuletzt das erzwungene Herunterfahren des hoch aktiven Kulturbetriebs hat auch diese Frage noch einmal deutlich verstärkt: Welchen ökologischen Fußabdruck hinterlassen eigentlich Ausstellungen mit ihren vielen Transporten und Reisen, mit Beleuchtung, Klimatisierung und restauratorischer Begleitung?
Auch hier geht es mehr um die Bewusstmachung von inneren Strukturen und Rahmenbedingungen als um plötzlich neue Standards oder gar Verhinderungsstrategien: Was können wir tun, um ressourcenschonender zu agieren, um ästhetische Erlebnisse, künstlerisch-intellektuelle Auseinandersetzung und sinnliche Erfahrungen stärker mit Nachhaltigkeitsaspekten zu verbinden; kurz: Wie kann sich der globale Kulturbetrieb mit den drängenden Fragen rund um die Klimaveränderung nicht nur diskursiv, sondern auch praktisch beschäftigen? Solche Perspektiven werden auch das zukünftige Marta-Programm stärker beeinflussen als je zuvor. Daran knüpfte dann auch ein interner Workshop zur Frage an, wie wir eigentlich zukünftig im Mix zwischen analog und digital kommunizieren wollen. Hat das klassische Katalogformat ausgedient, wie funktioniert unser innovatives modulares Publikationssystem, werden Audioguides intensiv genutzt, sind die QR-Codes in unseren Galerien erfolgreich, sollten sich Website, Blog, Druckprodukte und Ausstellung noch stärker und konzeptioneller verzahnen?
Wer braucht die Kunst und wofür?
Doch augenblicklich bleiben die Türen des Museums erst einmal noch geschlossen und es wird nicht nur eine wichtige Frage sein, wie wir uns danach wieder zusammenfinden, sondern auch, was sich grundsätzlich verändert hat – und was vielleicht als wichtige Richtungsänderung der Museumsarbeit Zeichen für die nächsten Jahre setzt. Dabei sollten wir fest im Blick behalten, dass gerade auch in Krisenzeiten Kunst und Kultur Rettungsanker des Geistes sind, „Lebens“-Mittel der Grundversorgung, um für all die Notwendigkeiten und Widrigkeiten eines erschwerten Alltags gewappnet und gestärkt zu sein.
Auf alles noch unspezifisch Neue, auf diese nicht vorhersehbaren Wendungen im Denken, Erleben und Handeln freue ich mich sehr – denn sie sind nicht nur Arbeitsfelder der Akteur*innen, sondern bieten auch anregende Erholungsfelder für die Nutzer*innen. Bleiben Sie neugierig, erwarten Sie das Beste und gehen Sie mit uns gemeinsam diesen nicht nur verunsichernden, sondern auch ermutigenden Weg in ein Jahr, das unabwägbarer denn je ist. Und vor allem: Seien Sie verantwortungsvoll im Sinne der Gemeinschaft und achten Sie auf Ihre Gesundheit – bis zum Wiedersehen!